BVerfG: Urteil zum Corona-Wiederaufbaufonds vom 6.12.2022

Kommentar von Prof.  Bernd Lucke, Hauptbeschwerdeführer

Mit seinem heutigen Urteil hat das Bundesverfassungsgericht unsere Verfassungsbeschwerde gegen die Finanzierung des “Corona-Wiederaufbaufonds” durch gemeinschaftlich verantwortete EU-Schulden in Höhe von 750 Mrd. Euro zurückgewiesen.

In Kürze und vereinfacht besagt das Urteil Folgendes:

  • Der Haushalt der Europäischen Union unterliegt einem allgemeinen Verschuldungsverbot. Die vom EU-Haushalt getätigten Ausgaben müssen durch Eigenmittel der Europäischen Union finanziert werden. Eine Fremdfinanzierung durch Schuldaufnahme ist unzulässig.
    (So weit, so gut!)Zum Urteil gibt es auch eine Kurzfassung als Pressemeldung   und ein sehr lesenswertes Sondervotum des Richters Peter Müller, der das Mehrheitsvotum des 2. Senats scharf kritisiert. Dieses Sondervotum finden Sie auf den letzten Seiten des Urteils 
  • Allerdings gebe es in der EU zwar ein “allgemeines”, nicht jedoch ein “absolutes” Verschuldungsverbot. Deshalb dürften ausnahmsweise von der EU Schulden aufgenommen werden, wenn die aufgenommenen Mittel mit einer klaren Zweckbindung verausgabt werden, nur Programmen außerhalb des Haushalts dienen und die Schulden zeitlich und vom Volumen her klar begrenzt sind.
    (Das ist gar nicht gut. Das sind Gummibedingungen, die der EU auch künftig die Verschuldung durch die Hintertür erlauben).
  • Es dürfen niemals mehr Schulden aufgenommen werden, als die EU in ihrem Haushalt an Eigenmitteln zur Verfügung hat.
    (Sehr schlecht. Das bedeutet, dass die EU künftig ihre Ausgaben verdoppeln kann und die Hälfte dieser Ausgaben in Schattenhaushalten durch Schuldaufnahme finanzieren kann.)
  • Beim Corona-Wiederaufbaufonds habe die EU zwar in zwei aufeinanderfolgenden Haushaltsjahren mehr als doppelt soviel Schulden aufgenommen wie sie an Eigenmitteln zur Verfügung habe, aber das sei immer noch rechtmäßig, weil es nicht auf den jährlichen Haushaltsplan, sondern auf die siebenjährige Finanzplanung ankomme. Und auf sieben Jahre gerechnet, seien die Corona-Schulden noch geringer als die EU-Eigenmittel.
    (Ganz offensichtlich suchte man nach Wegen, die eigenen Kriterien aufzuweichen.)
  • Jeder künftigen Schuldenaufnahme müsse vom Bundestag zugestimmt werden.
    (Immerhin!)
  • Es dürfe kein dauerhafter Mechanismus begründet werden, mit dem die Bundesrepublik Deutschland für die Schulden anderer Länder hafte.
    (Gut, aber das steht sowieso schon im EU-Vertrag (Art. 125)).
  • Ob der Corona-Wiederaufbaufonds den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien für eine zulässige Schuldfinanzierung in einer Ausnahmesituation (Pandemie) entspreche, sei aus mehreren Gründen zweifelhaft, u. a. weil Ausgaben für Klimaschutz nichts mit den Pandemiefolgen zu tun hätten, weil laufende und schon vor der Pandemie existente EU-Programme aus ihm gefördert werden und weil der Verteilungsschlüssel für die Gelder auf die Bruttoinlandsprodukte und Arbeitslosenziffern vor der Pandemie abstelle. Dennoch sei es nicht “offensichtlich”, dass es sich nicht doch um ein Programm zur Milderung der Pandemiefolgen handele.
    (Da fragt man sich, wann für das Bundesverfassungsgericht denn etwas offensichtlich ist.)
  • Es sei zwar nicht auszuschließen, dass mit den aufgenommenen Schulden das allgemeine EU-Verschuldungsverbot umgangen werde, aber es sei nicht offensichtlich.
  • Es sei ebenfalls nicht auszuschließen, dass durch den Wiederaufbaufonds (und namentlich durch verlorene Zuschüsse von 390 Mrd. Euro) das Nichtbeistandsgebot aus Artikel 125 AEUV umgangen werde, aber dies sei auch nicht offensichtlich.
    (Kein Kommentar)
  • Die in der EU-Verschuldung angelegte Haftung Deutschlands für eventuell ausfallende andere Mitgliedsländer stoße nicht auf Bedenken, weil diese Haftung nur vorübergehend sei. Letztlich müsse das säumige Mitgliedsland seine Schulden selbst bezahlen.
    (Das stimmt – auf dem Papier. Aber was ist, wenn das säumige Mitgliedsland es einfach nicht tut?)


Karlsruher Quintessenz: 

  • Unsere Verfassungsbeschwerde sei zwar zulässig, aber unbegründet.

Die Quintessenz des Sondervotums von Peter Müller:

  • Angesichts der im Urteil ausgeführten, schwerwiegenden Zweifel an der Rechtmäßigkeit der EU-Verschuldung hätte es zumindest einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union bedurft.
    (Sehr richtig! Leider wäre vom EuGH aber wenig Ersprießliches zu erwarten).
  • Der (untaugliche) Versuch des Gerichts, Grenzen für künftige Kreditaufnahmen der EU aufzuzeigen, bedeutet, dass das Bundesverfassungsgericht “den Einstieg in eine dauerhafte und grundlegende Veränderung der europäischen Finanzarchitektur ohne die erforderliche primärrechtliche Grundlage hinnimmt”
    (Das ist eine öffentliche Ohrfeige für die Richterkollegen!)
  • Das Urteil birgt die Gefahr, dass die unionsrechtliche Kompetenzkontrolle substantiell entleert wird.
    (Das ist keine Ohrfeige. Das ist ein Schlag mit dem Rohrstock).


Unsere Quintessenz:

Karlsruhe hat sich weggeduckt. Die Schuldenaufnahme für den Corona-Wiederaufbaufonds NGEU war sowieso nicht mehr zu ändern, also wurde sie – trotz klar niedergelegter Zweifel der Richter an ihrer Vertragskonformität – durchgewunken. Aber statt nun wenigstens Pflöcke einzuschlagen, um die nächsten EU-Schuldeninitiativen zu verhindern oder zu begrenzen, hat das Bundesverfassungsgericht die entscheidenden Rechtsfragen offen gelassen: Wenn zweifelhaft ist, ob der Corona-Wiederaufbaufonds den Anforderungen für eine rechtmäßige Verschuldung entspricht, wie soll dies bei künftigen schuldfinanzierten Programmen entschieden werden? Und kann die EU lauter “zweifelhafte” Programme auflegen und immer damit durchkommen?

Es sieht so aus, als wäre die nächste Verfassungsbeschwerde fast unausweichlich.

Urteil: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2022/12/rs20221206_2bvr054721.html

Pressemitteilung des BVerfG: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/bvg22-103.html;jsessionid=00F6ED6B808518AE421EA5E5522FBCAC.2_cid507

Hier eine Beitrag von Bernd Lucke in der Berliner Zeitung vom 12.12.2022

Die Entscheidung des Verfassungsgerichts zur EU-Verschuldung ist naiv

und im Cicero vom 7.12.2022 (identisch)

Die bedauerliche Naivität des Bundesverfassungsgerichts

Beiträge

6Dez 2022

BVerfG: Urteil zum Corona-Wiederaufbaufonds vom 6.12.2022

Kommentar von Prof.  Bernd Lucke, Hauptbeschwerdeführer

Mit seinem heutigen Urteil hat das Bundesverfassungsgericht unsere Verfassungsbeschwerde gegen die Finanzierung des “Corona-Wiederaufbaufonds” durch gemeinschaftlich verantwortete EU-Schulden in Höhe von 750 […]

3Jul 2022

Verfassungsbeschwerde zum Eigenmittelgesetz und Corona-Wiederaufbaufonds von Bündnis Bürgerwille: 

Das Bundesverfassungsgericht hat den Termin für die mündliche Verhandlung festgesetzt

Am 26.3.2021 hatte Bündnis Bürgerwille mit 2281 Mitklägern Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gegen die Zustimmung des […]

23Apr 2021

Neue Züricher Zeitung (NZZ) vom 23.4.2021

Der Wiederaufbaufonds wird europäische Wirklichkeit – eine politische, keine rechtliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Gastbeitrag von Ravel Meeth (Vorsitzender von Bündnis Bürgerwille )

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2022-12-12T17:39:36+00:0006/12/2022|
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