Infobrief vom 3.9.2021:
Vertragsverletzungsverfahren – Reaktion der Bundesregierung
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Unterstützer von Bündnis Bürgerwille,
in unserem letzten Rundschreiben informierten wir Sie über die anstehende Stellungnahme der Bundesregierung zu dem Vorwurf der EU-Kommission, Deutschland habe durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen die Europäischen Verträge verstoßen. Es handelt sich dabei um das Urteil vom 5. Mai 2020, in dem das Bundesverfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit der Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) im Rahmen des PSPP-Programms entschied. Das Bundesverfassungsgericht hatte in diesem Urteil sowohl der EZB als auch dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgeworfen, europäisches Recht miss-achtet und deshalb gegen das Demokratiegebot des Grundgesetzes (vgl. Artikel 20 GG) ver-stoßen zu haben.
Die Antwort der Bundesregierung ist inzwischen erfolgt. Sie wurde jedoch nicht veröffentlicht, sondern als Verschlusssache (” Nur zur dienstlichen Verwendung”) klassifiziert. Warum die Antwort der Bundesregierung in einer solch wichtigen Angelegenheit den Bürgern ver-borgen bleiben muss, erschließt sich nicht. Uns liegt das Schreiben der Bundesregierung mittlerweile vor, dessen Inhalt wir aber aus Gründen des Quellenschutzes hier nur mittelbar wiedergeben können.
Klar ist: Die EU-Kommission wird über die Antwort nicht glücklich sein. Denn nach dieser Antwort steht sie gründlich blamiert da, weil die Bundesregierung das tut, was Politiker auch sonst gerne tun: Sie beantwortet die Fragen der Kommission einfach nicht. Das Schreiben der Bundesregierung enthält hauptsächlich Gemeinplätze und Selbstverständlichkeiten, aber es enthält nicht die mindeste Antwort auf die Vorwürfe der Kommission. Dazu unten mehr.
Das ist zumindest eine herbe Enttäuschung für die Kommission und die Unterstützer des Ver-tragsverletzungsverfahrens. Das Schreiben ist aber auch eine herbe Enttäuschung für jene, die gehofft hatten, die Bundesregierung würde sich schützend vor das Bundesverfassungsgericht stellen. Immerhin geht es um die Unabhängigkeit unseres höchsten Gerichts und um sein Recht, zumindest den Kernbereich des Grundgesetzes (Menschenwürde, Demokratieprinzip, Sozialstaatsprinzip etc.) gegen Übergriffe von EU-Institutionen zu verteidigen.
Nirgendwo im Schreiben der Bundesregierung wird gesagt, dass das Bundesverfassungsgericht nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hat, das Grundgesetz zu wahren. Nirgendwo wird gesagt, dass europäisches Recht eben nur dann Anwendungsvorrang vor nationalem Recht hat, wenn es eine entsprechende Ermächtigung in den europäischen Verträgen gibt. Nirgendwo wird gesagt, dass das Karlsruher Urteil vom 5. Mai 2020 zu Recht ergangen ist, weil die EZB und der Europäische Gerichtshof die Verträge missachtet haben.
Leisetreterisch versucht die Bundesregierung, keiner Seite weh zu tun. Vielleicht ist das diplomatisch klug, aber der Klarheit des Zeugnisses dient es nicht. Die Bibel kennt dafür deutliche Worte: “Weil Du aber lau bist, weder heiß noch kalt, will ich Dich aus meinem Munde ausspeien”, heißt es in Offenbarung 3, 14-16. Rückgrat und Standhaftigkeit sind leider keine Markenzeichen der Bundesregierung.
Im Einzelnen geht es um Folgendes: Die Kommission erhebt in ihrem Schreiben zwei Vor-würfe gegen die Bundesrepublik Deutschland – respektive gegen das Bundesverfassungsge-richt (BVerfG). Erstens habe das Bundesverfassungsgericht den Anwendungsvorrang des Europarechts missachtet, indem es z. B. urteilte, dass der PSPP-Beschluss der EZB “in Deutschland unanwendbar” sei und “für deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte keine Wirkung” entfalte. Zweitens habe das Bundesverfassungsgericht gegen den in Artikel 4 des EU-Vertrages niedergelegten Grundsatz der “loyalen Zusammenarbeit” verstoßen, indem es die Meinungsverschiedenheit mit dem EuGH nicht im Rahmen einer weiteren Anfrage beim höchsten europäischen Gericht (ein sog. Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 267 AEUV) zu klären versucht habe, sondern diesem öffentlich ein Handeln außerhalb der Ver-träge (sog. ultra-vires-Akt) vorgeworfen habe.
Man mag zu diesen Vorwürfen stehen wie man will, aber es sind unbestreitbar konkrete, präzise Vorwürfe. Diese werden im Antwortschreiben der Bundesregierung geflissentlich ignoriert. Statt dessen werden viele unstrittige Sachverhalte betont und immer wieder wird die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zitiert. Aber auf den eigentlichen (ersten) Vorwurf, das Bundesverfassungsgericht habe den Rechtsakt der EZB zum Erwerb von Staatsanleihen (PSPP-Programm) unrechtmäßig für “unanwendbar” erklärt, geht die Bundesregierung nicht im mindesten ein. Sie beantwortet die von der Kommission gestellte Frage schlicht nicht.
Nicht besser ergeht es der Kommission mit ihrer zweiten Frage. Wieder führt die Bundesregierung viele Selbstverständlichkeiten aus. Auch meint sie, dass der EuGH und das Bundesverfassungsgericht ja öfter mal miteinander sprechen könnten, vielleicht auch in einem “regelmäßigen Forum”. Den konkreten Vorwurf aber, das BVerfG hätte vor seinem Urteil ein zweites Vorabentscheidungsgesuch an den EuGH richten müssen, übergeht die Bundesregierung völlig. Sie führt nur in größtmöglicher Allgemeinheit aus, dass Artikel 267 AEUV ein Vorabentscheidungsverfahren vorsieht (das hat niemand bestritten!) und dass die Bundesregierung dies unterstütze “falls notwendig” auch in Form einer Zweitvorlage.
Formal hält die Kommission nun einen Antwortbrief in ihren Händen, aber faktisch steht sie mit leeren Händen da. Insofern gibt es für Bündnis Bürgerwille auch keinen Grund, das Antwortschreiben der Bundesregierung vor dem Verfassungsgericht anzugreifen. Es stehen fast nur Platitüden darin. Inoffiziell haben wir zudem gehört, dass die Kommission das Vertragsverletzungsverfahren nicht weiterbetreiben möchte. Wenn sich dies bewahrheitet, war es halt ein Rohrkrepierer. Mal sehen, was die Scharfmacher im Europaparlament (die frühere SPD-Justizministerin Barley zum Beispiel) davon halten.
Schade aber ist, dass die Bundesregierung nicht in deutlichen Worten das Bundesverfas-sungsgericht verteidigte. Statt dessen spickt sie ihren Text oder die Auswahl der Zitate überall dort, wo sie der Kommission entgegenzukommen scheint, mit einschränkenden Wendungen wie “grundsätzlich”, “nicht unmittelbar”, “im Einklang mit den Verträgen” oder eben “falls notwendig”. Damit verhindert sie jede Festlegung im Sinne der Kommission, die vermutlich das Gefühl hat, einen Pudding an die Wand nageln zu wollen. Aber die Bundesregierung zeigt eben auch, dass sie nicht bereit ist, laut und deutlich für das Grundgesetz und die in den Verträgen festgelegte europäische Rechtsordnung einzutreten. Nirgendwo wird das Ermächtigungsbestrebungen der Kommission in deutlichen Worten zurückgewiesen.
Leider ist nicht zu erwarten, dass die nächste Bundesregierung in dieser Hinsicht couragierter auftreten wird. Nach den aktuellen Umfragen ist im Gegenteil eine deutliche Stärkung jener Parteien zu befürchten, die eine Fiskalunion und weitere Kompetenzverlagerungen nach Brüssel durchsetzen wollen. Besonders erschreckend ist, dass diese wichtigen Fragen im Wahlkampf keine Rolle spielen und die Kandidaten nicht Farbe bekennen müssen. Öffentliche und private Medien thematisieren die Europapolitik nicht. Genau das aber ist Ansporn für Bündnis Bürgerwille, wachsam zu bleiben. Wir halten Sie auf dem Laufenden – bitte unterstützen Sie uns weiter.
Mit freundlichen Grüßen
Ravel Meeth, Vorsitzender Bündnis Bürgerwille e. V.
Dr. Michaela D.Bach, Stellvertretende Vorsitzende
Dr. Hans-Hermann Schreier, Schatzmeister
Prof. Dr. Bernd Lucke (für die Beschwerdeführer)