Sachlage
Die EU-Kommission hat heute ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet. Damit stellt sie die ultimative Rechts- und Machtfrage in der EU. Denn den nationalen Verfassungsgerichten soll die Möglichkeit genommen werden, gegen übergriffiges Verhalten von EU-Institutionen zumindest dann noch einzuschreiten, wenn davon der sogenannte “Identitätskern” der nationalen Verfassung verletzt wird.
Was die EU zu dieser provozierenden Entscheidung bewogen hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Klar ist aber, dass selbstbewusste Mitgliedsstaaten, die auf ihre Souveränität Wert legen, alle Alarmglocken werden klingeln hören. Wer nicht auf das Niveau eines nachgeordneten Gliedstaates herabsinken will, kann die heutige Entscheidung der Kommission nicht unwidersprochen lassen. Die Kommission schürt mit ihr neue und schwer beizulegende Konflikte in Zeiten, in denen sie wirklich andere Prioritäten haben sollte.
Steht EU-Recht über nationalem Recht?
Im Kern geht es um folgendes: Die EU ist durch völkerrechtliche Verträge zwischen souveränen Nationalstaaten entstanden. Die EU ist somit keine aus sich selbst hervorgehende Institution, sondern leitet ihre Legitimation aus dem Willen ihrer Gründer ab.
Seit vielen Jahren aber bestreitet die EU genau das. Insbesondere entwickelte der Europäische Gerichtshof (EuGH) das Prinzip, dass EU-Recht generell über nationalem Recht stehe, so dass die Rechtsprechung des EuGH bindend für alle nationalen Gerichte sei.
Diese Dominanz des EU-Rechts wird von den Mitgliedsstaaten zwar grundsätzlich akzeptiert. Sie wird sogar da akzeptiert, wo Verfassungsbestimmungen und Bestimmungen über Grundrechte von EU-Recht “überlagert” werden. Ein prominentes Beispiel ist das Grundrecht auf politisches Asyl nach Artikel 16a des Grundgesetzes. Da die EU in den sog. Dublin-Verordnungen ein eigenes Asylrecht geschaffen hat, sind in Deutschland die sehr viel großzügigeren Dublin-Verordnungen maßgeblich – nicht das Grundgesetz.
Das Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland bedroht den „Identitätskern“ des deutschen Grundgesetzes
Auch das Bundesverfassungsgericht akzeptiert diesen Vorrang des europäischen Rechts – bis auf einen letzten Vorbehalt: Es bestreitet den Vorrang des EU-Rechts da, wo der sog. “Identitätskern” des Grundgesetzes verletzt würde. Zu diesem Identitätskern zählt insbesondere die Menschenwürde (Artikel 1 GG), das Demokratieprinzip, das Sozialstaatsprinzip und die föderale Ordnung (alles Artikel 20 GG). Denn für Artikel 1 und 20 GG gilt die in Artikel 79 Absatz 3 festgelegte sog. “Ewigkeitsgarantie” des Grundgesetzes: Selbst Bundestag und Bundesrat dürfen diese Verfassungsgrundsätze nicht ändern. Also, so folgert das Bundesverfassungsgericht, gibt es einen unveräußerlichen Identitätskern des deutschen Staates, der nicht dem Ermessen von EU-Organen anheimgestellt werden kann.
Zu diesem Identitätskern zählt das Demokratieprinzip. Deshalb darf die EU stets nur das tun, was vom deutschen Gesetzgeber demokratisch beschlossen wurde. Die EU hat demnach keine Macht, ihre eigenen Aufgaben zu definieren oder Gesetze zu erlassen, die nicht aus der demokratischen Willensbildung der Mitgliedsstaaten abgeleitet sind.
Urteil des BVerfG gegen die EZB-Staatsanleihekäufe ist Grund für das Verfahren
Im letzten Jahr befand das Bundesverfassungsgericht, dass die EZB-Staatsanleihekäufe das demokratisch beschlossene Mandat der EZB überschritten. Weil eine EU-Institution außerhalb der ihr zugebilligten Kompetenzen handelte, erkannte das Bundesverfassungsgericht auf eine Verletzung des Identitätskerns des Grundgesetzes. Das galt zugleich auch für das vorangegangene Urteil des EuGH, das die Anleihenkäufe für rechtmäßig erklärt hatte, ohne das Problem der Mandatsüberschreitung näher zu prüfen. Diese “Missachtung” der Rechtsprechung des EuGH nimmt die Kommission jetzt zum Anlass eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland.
Sollte dieses Verfahren Erfolg haben (und sollten die nationalen Verfassungsgerichte sich ihm beugen), dann können die nationalen Verfassungsgerichte künftig selbst den Identitätskern ihrer Verfassungen nicht mehr schützen. Die Auslegung des Europarechts unterläge dann allein dem EuGH, für den alle nationalen Verfassungsbestimmungen irrelevant sind. Die EU hätte sich dann tatsächlich verselbstständigt und würde alle ihre Rechtsakte aus sich selbst heraus legitimieren. Alle diese Rechtsakte hätten Bindungswirkung für alle Mitgliedsstaaten, könnten von deren Gerichten aber nicht mehr daraufhin überprüft werden, ob sie zumindest mit den grundlegendsten Verfassungsprinzipien in Einklang zu bringen sind.
Deshalb wurde anfangs beschrieben, dass es sich um die ultimative Rechts- und Machtfrage in der EU handelt. Die Kommission legt den Hebel an die Fundamente der Union. Die Mitgliedstaaten werden sich dem absolutem Suprematieanspruch der Union kaum beugen wollen. Die Kommission provoziert damit eine Verfassungskrise in Europa, wie wir sie bisher noch nicht erlebt haben. Bislang ist das Problem, wer in Rechtsfragen in Europa das letzte Wort hat, offen gehalten und der kooperativen Verständigung zwischen EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten überlassen worden. Damit soll jetzt offenbar Schluss sein.
Offenbarung kurz vor der Bundestagswahl: Wird die Bundesregierung unser Grundgesetz verteidigen?
Der Ausgang des Vertragsverletzungsfahrens ist vermutlich offen. Zunächst muss nun die Bundesregierung Stellung beziehen. Dem kann man immerhin etwas Positives abgewinnen: Die Frist ist auf zwei Monate angesetzt, d. h. die Bundesregierung muss mitten im Bundestagswahlkampf dazu Stellung beziehen, ob das Bundesverfassungsgericht zu Recht den Identitätskern des Grundgesetzes verteidigt: Ja oder Nein. Weit besser, als wenn eine neue (und möglicherweise ganz anders zusammengesetzte) Bundesregierung diese Aufgabe nach der Wahl erledigen dürfte.
Es gibt wenig, was wir dagegen tun können – außer, dass jeder von uns nach Kräften über diesen ungeheuerlichen Vorgang informiert und Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen versucht – so schwer dies bei einem so diffizilen Thema auch sein mag. Denn wichtig ist es!