Zum Rechtsbruch gegen den ESM-Vertrag

Der nächste Vertragsbruch

In einer aufsehenerregenden Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht vor knapp zwei Wochen der Europäischen Zentralbank (EZB) vorgeworfen, ihre Staatsanleihenkäufe in Missachtung der Europäischen Verträge durchzuführen. Bundesregierung und Bundestag wurden vom Bundesverfassungsgericht dazu verpflichtet, gegen solche sog. „ausbrechenden Rechtsakte“ aktiv vorzugehen.

Diese Maßgabe der Verfassungsrichter scheint wenig Eindruck bei Bundesregierung und Bundestag gemacht zu haben. Denn am 14.5. stimmte der Bundestag auf Vorschlag der Bundesregierung einer 250 Milliarden Euro umfassenden Kredithilfe zu, die die EU über den Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) allen Ländern der Eurozone verfügbar machen will. Diese Entscheidung könnte prompt die nächsten Kläger in Karlsruhe aufs Tapet rufen.

 

Zwingende Vorraussetzung für ESM-Kredite ist Finanzinstabilität

Um zu verstehen, worum es geht: Der ESM wurde in der Eurokrise der Jahre 2010-2013 geschaffen, um überschuldeten Eurostaaten die Aufnahme weiterer Staatsschulden zu ermöglichen. Seine Errichtung war umstritten, weil die vom ESM gewährten Kredite von allen Eurostaaten anteilig verbürgt wurden. Das ist auch heute noch so. Wenn ein Staat ESM-Kredite nicht termingerecht zurückzahlen kann, haften alle Eurostaaten für diese Schulden, obwohl sie keine Verantwortung für die unsolide Haushaltspolitik des insolventen Mitgliedsstaates tragen.

Diese proportionale Haftung aller Eurostaaten wurde damit begründet, dass die Insolvenz eines einzelnen Mitgliedsstaates die Finanzstabilität der gesamten Eurozone bedrohe. Deshalb wurde im ESM-Vertrag ausdrücklich festgelegt, dass der ESM Kredite nur dann vergeben darf, wenn die Finanzstabilität eines einzelnen Mitgliedslandes oder der Eurozone als Ganzes gefährdet ist.

 

Vertragsbruch: Corona ist keine Bedrohung der Finanzstabilität

Die jetzt vom ESM beabsichtigten Kredite sollen freilich ausdrücklich und ausschließlich gesundheitlichen Zwecken, nämlich der Bekämpfung der Corona-Pandemie, dienen. Corona ist eine gefährliche Krankheit – das ist unbestritten und allseits bekannt. Weniger bekannt und alles andere als unbestritten ist die Ansicht, dass Corona nicht nur Menschen, sondern auch die Finanzstabilität der Eurozone oder ihrer Mitgliedsländer bedrohe.

Das aber ist eine zwingende Voraussetzung für eine Kreditvergabe über den ESM. Im Allgemeinen darf die EU sich nicht verschulden. Sie darf es nur über den ESM und nur, wenn die Finanzstabilität gefährdet ist.

Wenn die Finanzstabilität nicht bedroht ist, wäre es ein offensichtlicher Vertragsbruch, eine Bedrohung der Finanzstabilität vorzuschützen, um andere, wünschenswerte Ausgaben zu finanzieren. Werfen wir einen Blick darauf, wie es mit der Finanzstabilität der Eurozone bestellt ist:

 

Italien kann sich problemlos über den Kapitalmarkt finanzieren

Das von Corona am schwersten betroffene Euroland ist Italien. Der italienische Staat finanziert sich derzeit problemlos am Kapitalmarkt: Für zehnjährige Staatsanleihen muss er lediglich 1,8% Zinsen zahlen. Während der Eurokrise galt die Solvenz eines Staates als fraglich, wenn er am Kapitalmarkt mehr als 7% Zinsen auf seine Staatsanleihen bezahlen musste. Wäre die Finanzstabilität des italienischen Staates bedroht, würden Anleger zweifellos einen erheblichen Risikoaufschlag für italienische Staatsanleihen verlangen. Davon ist derzeit weder bei Italien noch bei irgendeinem anderen Land der Eurozone etwas zu sehen.

 

Die EU-Kommission hat für kein einziges Land Finanzinstabilität festgestellt

Da die Nutzung des ESM aber eine Bedrohung der Finanzstabilität voraussetzt, hat die EU-Kommission diese Risiken in einem kurzen Schriftsatz, der dem Bundestag zugeleitet wurde, bewertet. In diesem Dokument wird kein einziges Land der Eurozone benannt, dessen Finanzstabilität bedroht sei. Vielmehr wird behauptet, dass Risiken für die Finanzstabilität der Eurozone insgesamt „noch nicht gebannt“ seien.

Natürlich müsste solch eine Behauptung begründet werden. Aber einen Satz des Typs „Die Finanzstabilität ist gefährdet, weil …“ sucht man im ganzen Dokument vergeblich. Statt dessen wird zutreffend ausgeführt, dass die Aktienkurse gefallen sind und die Banken wegen höherer Kreditrisiken größere Rentabilitätsprobleme haben. Nun ja, sowas kommt vor. Es ist nicht die Aufgabe der EU, Kursverluste an den Aktienmärkten zu verhindern oder den Banken eine Gewinnmarge zu sichern.

Die EU darf (und muss!) nur tätig werden, wenn die Verluste an den Finanzmärkten so groß sind, dass eine große Anzahl von Banken und anderen Finanzinstitutionen in ihrer Existenz gefährdet ist. Dieser Nachweis wird an keiner Stelle des Dokuments erbracht. Er wird noch nicht einmal im Ansatz versucht.

Statt dessen führt die EU-Kommission aus, dass die EZB-Bankenaufsicht noch am 24. April 2020 die Widerstandsfähigkeit des Bankensystems hervorgehoben habe und dass die Banken mit „beträchtlichen Kapital- und Liquiditätspuffern“ in die Krise eingetreten seien. Ferner seien seit Krisenbeginn durch die EZB und durch verschiedene Regulierungsbehörden eine Vielzahl von Maßnahmen erlassen worden, die die Lage der Banken verbessert hätten. Die Spannungen auf dem Geldmarkt des Euro-Währungsgebietes hielten sich in Grenzen. Alle Regierungen der Eurozone hätten unverändert vollständigen und stabilen Zugang zu den Märkten für Staatsanleihen. Es gebe keine Marktbeschränkungen, obwohl die Euro-Staaten sich seit Beginn der Krise verstärkt verschuldeten. Die Finanzierungskosten seien im Verlauf des letzten Jahres deutlich gesunken. Kein Mitgliedsstaat müsse im Durchchnitt mehr als 1,5% Zinsen zahlen.

 

Hilfskredite aus dem ESM verstoßen gegen den ESM-Vertrag

Auf gut Deutsch: Von einer Bedrohung der Finanzstabilität ist weit und breit keine Rede. Hilfskredite aus dem ESM verstoßen daher gegen den ESM-Vertrag. Zudem werden sie nicht gebraucht. Italien hat sie schon abgelehnt und alle anderen Staaten könnten unschwer ebenfalls selbst an den Kapitalmarkt gehen. Es ist durchaus sinnvoll, den gesundheitlichen Anforderungen und den schweren wirtschaftlichen Einbrüchen mit erhöhter Verschuldung Rechnung zu tragen. Aber jeder Staat kann und sollte dies auf eigene Rechnung tun.

 

Die EU ist eine Wertegemeinschaft. Zu den gemeinsamen Werten zählt die Rechtsstaatlichkeit – und damit der Respekt vor Gesetzen und Verträgen. In dieser Hinsicht sollte die EU Vorbild sein. Es trifft nicht zu, dass die Europäischen Verträge aus elastischem Material gezimmert wurden, das nach Gutdünken gedehnt werden kann.