Bernd Lucke

Scholz in Amerika – Spieltheorie für Anfänger

Beitrag im Cicero am 9.2.2022, https://www.cicero.de/aussenpolitik/ukraine-russland-sanktionen-spieltheorie-scholz-biden-nord-stream , (hier das Skript des Artikels)

Russen sind gute Schachspieler. Das ist bekannt. Gute Spieler denken viele Züge im voraus. Stets muss man bedenken, wie der Gegner ziehen könnte und was die eigene beste Antwort darauf wäre.

Eine Teildisziplin der Wirtschaftswissenschaften ist die Spieltheorie, in der strategisches Handeln analysiert wird. Stellen wir uns ein besonders einfaches Spiel vor, in dem es zwei Spieler gibt: Den Westen und Russland. Die Spieler ziehen abwechselnd. Der Westen hat zwei Züge, Russland hat einen. Bei jedem Zug gibt es genau zwei Möglichkeiten. Kein russischer Schachspieler dürfte von diesem Spiel überfordert sein.
Übrigens wird Spieltheorie auch auf Militärakademien gelehrt, in der Nato genauso wie in Russland. Aber zur Grundausbildung von Politikern und Journalisten gehört die Spieltheorie offensichtlich nicht. Deshalb hier ein wenig Spieltheorie für Anfänger:

Wie läuft das Nato-Russland-Spiel ab?

Es geht natürlich um einen möglichen russischen Angriff auf die Ukraine. Der erste Zug des Westens besteht darin, Wirtschaftssanktionen anzudrohen, falls Russland einmarschiert. Wir wollen das Spiel ganz einfach halten, deshalb gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Nato droht (D=1) oder die Nato droht nicht (D=0).
Dann entscheidet Russland über seinen einzigen Zug: Einmarsch (E=1) oder kein Einmarsch in die Ukraine (E=0). Abschließend zieht wieder der Westen: Er verhängt Sanktionen (S=1) oder er verhängt keine Sanktionen (S=0).

Welche Züge gewählt werden, hängt natürlich von den „Auszahlungen“ des Spiels ab und über diese haben wir noch nichts gesagt. Aber klar ist, dass jeder Spieler für sich das beste Ergebnis erzielen will. Nehmen wir Folgendes an: Wenn Russland am Ende die Ukraine besetzt hat, kriegt Russland 100 und der Westen -100. Wenn am Ende Wirtschaftssanktionen verhängt werden, kriegt Russland -200 und der Westen -50. Werden keine Sanktionen verhängt oder marschiert Russland nicht ein, sind die Auszahlungen null.

Die Zahlen könnten natürlich anders gewählt werden. Ich habe hier die günstigste Form gewählt, die man sich aus westlicher Sicht denken kann: Die Sanktionen fügen Russland mehr Schaden zu als der Einmarsch in der Ukraine an Nutzen stiftet. Gleichzeitig schaden die Sanktionen Russland viel mehr als sie dem Westen schaden.

Man kann sich das Spiel jetzt in einem sogenannten Spielbaum darstellen. Jede Verzweigung des Baums stellt eine Zugmöglichkeit für einen der Spieler dar. Am Ende sieht man die Auszahlungen, die die Spieler erzielen. Betrachten wir diesen Spielbaum einmal für den Fall, dass die Nato im ersten Zug Sanktionen androht:

Falls Russland nicht einmarschiert,

wird es auch keine Sanktionen geben, also würde der Westen in seinem zweiten Zug S=0 spielen. Jeder Spieler erhielte null und das ist das Ergebnis, das der Westen gerne hätte.
Allerdings wissen die Russen auch: Wenn sie in die Ukraine einmarschieren, dann hat der Westen die Wahl zwischen -150 und -100. In Worten: Dann wäre es für die Nato besser, keine Sanktionen zu verhängen. Denn die Nato weiß, dass Russland auf keinen Fall aus der Ukraine abziehen wird. Der Einmarsch ist eine endgültige Entscheidung. Russland wird sich nicht die Demütigung zufügen, aufgrund von Wirtschaftssanktionen klein beizugeben und seine siegreichen Truppen unter Spott und Jubel der Ukrainer wieder nach Hause zu holen. Wenn die Nato -150 akzeptiert, wird Russland -100 akzeptieren. Und wenn es Jahrzehnte dauert.

Strategie des Westens

Sanktionen androhen und Sanktionen im Falle eines Einmarsches verhängen (D=1, E=1, S=1). Diese Strategie ist schlecht. In spieltheoretischer Sprache sagt man, dass sie „nicht zeitkonsistent“ ist. Damit ist gemeint: Es gibt einen Zeitpunkt, wo diese Strategie aus Sicht des Westens nicht mehr optimal ist. Es ist der Zeitpunkt nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine. Für den Westen wäre es unsinnig, nach einem russischen Einmarsch noch an seiner Strategie festzuhalten, denn er würde durch die Verhängung von Sanktionen nur seinen eigenen Schaden vermehren und im Übrigen nichts bewirken. Daher ist seine Strategie im Zeitablauf nicht konsistent.
Russland weiß das natürlich. Das ist elementare Spieltheorie. Deshalb schreckt die Androhung von Sanktionen Russland nicht von einem Einmarsch ab. Nach den Regeln unseres einfachen Spiels wird Russland einmarschieren, weil es weiß, dass es danach für den Westen optimal wäre, keine Sanktionen zu verhängen. Und dann hat Russland das Spiel mit 100 Punkten gewonnen.

Natürlich ist die Realität komplizierter

Natürlich wird der Westen nach einem russischen Einmarsch Sanktionen verhängen und Russland ist sich dessen bewusst. Aber Russland weiß auch, dass der Westen die Sanktionen nur verhängt, weil er sein Gesicht nicht verlieren will. Nicht weil er glaubt, damit irgendetwas erreichen zu können. Und beide Seiten wissen, dass es für beide Seiten am besten wäre, die wirtschaftlichen Beziehungen nach Ablauf einer Schamfrist baldmöglichst zu normalisieren. Man wird Wege finden, dies zu tun. Sanktionen sind langfristig kein sinnvolles Ergebnis und deshalb wird ihre Zeit ablaufen. Sie sind nicht zeitkonsistent. Russland weiß das und wird entsprechend handeln.
Übrigens: Falls der Westen Sanktionen gar nicht erst androht, erhält man genau dasselbe Ergebnis. Betrachten wir noch einmal den Spielbaum und ändern den ersten Zug des Westens auf D=0. Alles Weitere ist unverändert. Es ist also völlig belanglos, ob der Westen Sanktionen androht oder ob er es nicht tut. Da der erste Zug des Westens irrelevant ist, gibt es de facto nur einen Zug für jeden Spieler und den ersten Zug hat Russland. Mit diesem ersten Zug kann Russland bestimmen, was die beste Antwort des Westens wäre: Das fait accompli zu akzeptieren. Ja, es ist eine völkerrechtswidrige Aggression und ein Angriff auf die europäische Friedensordnung. Aber mit Wirtschaftssanktionen werden wir ihn weder verhindern noch rückgängig machen können. Und einen Krieg ist uns die Ukraine nicht wert.

Scholz in Amerika. Da könnte man sagen: Joe Biden hat von Spieltheorie keine Ahnung. Anders als sein Gast Scholz. Joe Biden droht vollmundig Sanktionen an, die nichts bewirken werden. Scholz aber ist klug und schweigt vielsagend. Das Wort NordStream II kommt ihm nicht über die Lippen. Er sagt nur, dass der Westen einvernehmlich handeln werde. Oder: Sanktionen werden nur verhängt, wenn Deutschland es auch will. Besser hätte sich Scholz gegenüber dem Bündnispartner nicht schlagen können.

Muss man sich über Joe Biden wundern?

Hat nicht auch er Berater, die elementare Spieltheorie verstehen? Selbstverständlich hat er die. Und deshalb muss man sich auch nicht wundern. Denn zwar hat Joe Biden Sanktionen angedroht. Aber nur die, die Deutschland weh tun würden. Die USA kämen schmerzlos davon. Mehr noch: Die USA würden profitieren, wenn Deutschland ihr Flüssiggas kaufen müsste, weil es NordStream II nicht in Betrieb nimmt.
Es gibt nicht nur das Nato-Russland Spiel. Auch in der Nato werden Spiele gespielt. Joe Biden befürwortet Sanktionen, die den USA nützen. Das ist ok. Scholz weiß, dass diese Sanktionen nichts nützen und Deutschland schaden. Das ist gut und offenbar hat er Ahnung von Spieltheorie. Die Frau Außenministerin ist leider nur Expertin für Völkerrecht.