Rechtsstaat in Not!
Wichtige Grundlage einer Demokratie ist ein funktionierendes Rechtssystem, das bei uns immer mehr missachtet wird: EZB und Deutsche Bundesbank ignorieren das Bundesverfassungsgericht. Die EU bricht europäische Verträge. Deutsche Regierung und Bundestag nehmen die Rechtsverstöße widerstandslos hin oder bestätigen gar Vertragsbrüche der EU.
Die Deutsche Bundesbank missachtet das Bundesverfassungsgericht. Seit dem 6. August kauft die deutsche Notenbank unrechtmäßig und entgegen einem ausdrücklichen Verbot des höchsten deutschen Gerichts in großem Umfang Staatsanleihen. Doch während die Medienberichterstattung voll ist von Verstößen gegen Mindestabstände und Mundschutzgebote, findet dieser ungeheuerliche Vorgang kaum Widerhall. Dabei ist es nichts anderes als ein Angriff auf Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung, wenn ein Teil der Exekutive sich nicht um die Rechtsprechung schert.
Was ist passiert? Am 5. Mai 2020 wies das Bundesverfassungsgericht in einem vielbeachteten Urteil die Europäische Zentralbank (EZB) in ihre Schranken. Die EZB habe mit ihrer expansiven Geldpolitik und dem massiven Ankauf von Staatsanleihen gegen die Europäischen Verträge verstoßen, weil sie deren negativen Auswirkungen nicht geprüft und abgewogen habe. Der Deutschen Bundesbank verboten die Verfassungsrichter die weitere Teilnahme an den Staatsanleihenkäufen ab dem 6. August 2020 „wenn nicht der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt, dass die währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen.“
EZB missachtet das Verfassungsgericht
Der vom Gericht geforderte Beschluss des EZB-Rates ist bis zum heutigen Tage nicht erfolgt. Deshalb trat das Verbot am 6. August in Kraft. Die Bundesbank aber ignoriert dies. Angeblich habe die EZB in geldpolitischen Beschlüssen vom 3./4. Juni den Anforderungen des Gerichts Rechnung getragen. Doch liest man diese Beschlüsse nach, findet sich nirgendwo die vom Bundesverfassungsgericht geforderte „nachvollziehbare Darlegung“. Es findet sich nur die Behauptung, dass die Vorteile der EZB-Politik deren Nachteile „klar übertroffen hätten“. Man spricht sich selbst von Sünden frei. Nirgends wird auch nur der Versuch gemacht, dies durch konkrete Zahlen und Analysen zu belegen. Der ehemalige EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark sprach in diesem Zusammenhang öffentlich von einer „Farce“.
Dass die Exekutiven das geltende Recht missachten, ist leider kein Ausnahmefall, wie drei weitere Beispiele aus jüngster Zeit verdeutlichen:
EU missachtet das Verschuldungsverbot
Erstens: Der gefeierte Corona-Wiederaufbaufonds. Der nach langen Beratungen am 21. Juli 2020 vom Europäischen Rat beschlossene „Aufbauplan Next Generation EU“ umfasst 750 Mrd Euro, die von der EU-Kommission durch Verschuldung am Kapitalmarkt finanziert werden sollen. Obwohl der EU die Aufnahme von Schulden verboten ist: Nach Artikeln 310 und 311 des AEU-Vertrages sind die Ausgaben des EU-Haushalts „vollständig aus Eigenmitteln“ zu finanzieren.
Gegen dieses Verschuldungsverbot verstößt „Next Generation EU“, denn seine Ausgaben, darunter Zuschüsse in Höhe von 390 Mrd Euro, sind Ausgaben des EU-Haushalts. Aber in 26 von 27 EU-Mitgliedsstaaten scheint dies kaum jemanden gekümmert zu haben. Lediglich in Finnland widersprach das zuständige finnische Verfassungsrechtskomitee (FCLC).
Dieses Komitee ist nach Abschnitt 74 der finnischen Verfassung zuständig für die Auslegung von Verfassungsrecht. Die Regierung ist an seine Auslegung gebunden. Das FCLC stellte fest, dass Artikel 310 und 311 AEUV stets als ein Verschuldungsverbot verstanden wurden und jeder Verstoß dagegen einer Vertragsänderung gleichkäme, der das finnische Parlament mit Zwei-Drittel-Mehrheit zustimmen müsse.
Die finnische Regierung verfügt über keine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Sie ignorierte deshalb erstmals die Einschätzung des FCLC und dies wird finnische Verfassungsrechtler wohl noch lange beschäftigen.
Deutschland nimmt Rechtsverstöße hin
Für deutsche Bürger sind die innerfinnischen Konflikte weniger relevant. Die entscheidende Frage lautet vielmehr: Warum regt sich in Deutschland und in den anderen EU-Mitgliedsstaaten nicht vergleichbarer Widerstand?
Denn die Sache stinkt. Die finnische Staatsrechtsprofessorin Päivi Leino-Sandberg, die auf diese Vorgänge aufmerksam machte, wies darauf hin, dass noch bis zum 15. Juni 2020 sowohl auf den Webseiten der Kommission als auch des Rates eindeutig darauf hingewiesen wurde, dass die EU keine Schulden zur Finanzierung ihres Haushalts aufnehmen darf. Ab dem 16. Juni waren diese Darstellungen verschwunden. Am 21. Juli beschloss der Europäische Rat, dass die EU 750 Mrd Euro an Schulden aufnehmen solle. Ein klarer Verstoß gegen die Verträge, wenn man das Vertragsverständnis zugrundelegt, das die EU selbst noch fünf Wochen vorher öffentlich verbreitete.
Bundestag missachtet ESM-Vertrag
Zweites Beispiel: Am 8. Mai 2020 beschloss die Eurogruppe, dass der Europäische Stabilisierungsmechanismus (ESM) den von Corona stark betroffenen Staaten Kreditlinien von insgesamt bis zu 240 Mrd Euro zur Verfügung stellen soll. Der Bundestag stimmte dem am 18. Mai 2020 zu, obwohl der Beschluss gleich doppelt gegen den ESM-Vertrag verstößt: Denn ESM-Finanzhilfen dürfen nach Artikel 3 des ESM-Vertrages nur dann bewilligt werden, wenn dies für die Finanzstabilität der Eurozone oder eines ihrer Mitgliedsländer unabdingbar ist. In der Corona-Krise waren es aber die öffentlichen Gesundheitssysteme, nicht die Finanzsysteme, die in einzelnen Ländern an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit kamen. Zudem werden die ESM-Kredite nicht an „strenge Auflagen“ zum Beispiel aus einem makroökonomischen Stabilisierungsprogramm gebunden, obwohl dies im ESM-Vertrag zwingend gefordert wird.
EZB dehnt illegale Staatsfinanzierung aus
Drittes Beispiel: Nachdem das Bundesverfassungsgericht am 5. Mai die Staatsanleihenkäufe der EZB als in dieser Form unvereinbar mit den Europäischen Verträgen befunden hatte, beschloss die EZB am 3. Juni eine Ausdehnung (!) der Ankäufe um weitere 600 Mrd Euro. Man muss dies wohl als einen Fehdehandschuh verstehen, als einen Schlag ins Gesicht des Bundesverfassungsgerichts.
Diese Ausdehnung fand im Rahmen eines neuen Staatsanleihenkaufprogramms statt, das nicht Gegenstand der Verfassungsbeschwerde war, da es erst am 24. März 2020 beschlossen worden war. Das neue Programm verletzt etliche der Kriterien, die das Bundesverfassungsgericht für das alte Programm als wesentlich angesehen hatte: So können kurzfristig überproportional viele italienische Anleihen gekauft werden, es gibt kein Ausstiegsszenario und erneut wird nicht geprüft, ob die vermeintlichen Vorteile des Programms überwiegen gegenüber seinen negativen Auswirkungen: Auf Zinseinkünfte der Sparer, Ertragskraft der kapitalgedeckten Altersvorsorge, Immobilienpreise und Mieten, Stabilität der Banken und überbordende Staatsverschuldung.
Offenkundig ist auch dieses Staatsanleihenkaufprogramm ein Verstoß gegen die Europäischen Verträge. Und hatte das Bundesverfassungsgericht noch Restzweifel, ob das alte Programm mit einem Volumen von 2200 Mrd Euro als monetäre Staatsfinanzierung zu werten sei: Gemeinsam mit dem neuen Programm wächst das Volumen der Staatsschulden, die die EZB hält, demnächst auf 3550 Mrd Euro. Das ist ungefähr das Zehnfache aller Einnahmen des Bundeshaushalts 2020.
Um nicht missverstanden zu werden: Die Corona-Krise ist eine schwere wirtschaftliche Verwerfung. Dass Staaten in solchen Situationen Schulden aufnehmen und Härten abzumildern versuchen, ist richtig. Das ist auch nicht verboten. Aber es ist nicht richtig, dass Staaten (oder die EU) zu Mitteln greifen, die verboten sind.
Rechtsstaat in Gefahr
Der Staat verlangt vom Bürger Gesetzestreue. Zu Recht. Mit demselben Recht verlangt der Bürger vom Staat Gesetzestreue. Und wenn der Staat Gesetze verletzt, dann verlangt der Bürger, dass der Staat zumindest die Gerichtsurteile befolgt, in denen sein Gesetzesverstoß festgestellt wird. Leider scheint es selbst daran heute zu hapern.
Rechtsstaatlichkeit ist ein Grundwert der EU. Gelegentlich stellt die EU gerne gewisse Mitgliedsstaaten wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit an den Pranger. Sie sieht den Splitter im Auge des Anderen, aber den Balken im eigenen Auge sieht sie nicht.
Schon vor vielen Jahren, als die EU in der Eurokrise Artikel 125 des Maastrichtvertrages brach, haben wir deshalb das überparteiliche Bündnis Bürgerwille (https://buendnis-buergerwille.de/) gegründet. Wir sind gemeinnützig und finanzieren uns allein über Spenden. Wir führen Menschen zusammen, die nichts eint als die Überzeugung, dass Rechtsstaatlichkeit ein hoher Wert ist. Ein Wert, so hoch, dass es manchen Politikern gelegentlich bequemer scheint, ihn nicht so genau zu nehmen. Aber genau das darf nicht toleriert werden. Deshalb streiten wir gemeinsam für den Rechtsstaat: Mit Briefen, mit Petitionen und gelegentlich mit Verfassungsbeschwerden.
Bürgerinitiative für Transparenz und Rechtsstaatlichkeit
Wir haben rund 20.000 Unterstützer. In diesen Tagen geht ein von Tausenden Unterstützern unterschriebener Brief von Bündnis Bürgerwille an die Bundeskanzlerin und den Bundestagspräsidenten (https://buendnis-buergerwille.de/buergerbrief/ – Mitzeichnen ist noch möglich). Denn – und hier kommen wir wieder zum Anfang – die EZB hat Bundesregierung und Bundestag Dokumente übermittelt, in denen angeblich nachgewiesen wird, dass die expansive Geldpolitik der EZB keine unvertretbar negativen Auswirkungen auf die Ersparnisse, die Altersvorsorge, die Mieten, die Finanzstabilität und eine solide Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten hat.
Das wäre ja schön. Aber die Dokumente sind als geheim klassifiziert. Warum? Was gibt es da zu verbergen? Wenn alles gut ist, kann man das doch öffentlich machen. Dass etwas nicht veröffentlicht werden soll, lässt Unheil vermuten.
Das Bundesverfassungsgericht hat gefordert, dass die Auswirkungen der EZB-Politik „nachvollziehbar“ dargelegt werden. Geheime Unterlagen sind nicht nachvollziehbar. Auch deshalb ist das Urteil nicht erfüllt und die fortdauernde Teilnahme der Bundesbank an den Staatsanleihekäufen ist unrechtmäßig. Um des Rechtsstaats willen fordern wir in unserem Brief die unverzügliche Veröffentlichung aller Dokumente.
Bündnis Bürgerwille e.V.
Ravel Meeth (Vorstandsvorsitzender)
Ein Auszug aus dem Beitrag wurde am 24.11.2020 in der “Jungen Freiheit” veröffentlicht: