Soeben erschienen ist eine durch unseren Prozessbevollmächtigten, Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Detlef Horn, erstellte Zusammenstellung des gesamten Verfahrensverlaufs des EZB-Verfahrens (mit den Schriftsätzen aller vier Prozessvertreter seit 2015).
Damit soll der allgemeinen und der Fachöffentlichkeit die Möglichkeit eröffnet werden, unsere Argumentationen im Detail nachzuvollziehen und in den Kontext der Urteile des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs zu stellen.
Christoph Degenhart / Hans-Detlef Horn / Dietrich Murswiek / Markus C. Kerber:
Das Anleihenkaufprogramm APP der Europäischen Zentralbank vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Gerichtshof der Europäischen Union
Dokumentation der Verfahrensschriftsätze
Redaktionelle Bearbeitung: Hans-Detlef Horn
Nomos-Verlag, Baden-Baden 2021, 1.289 Seiten
(Schriftenreihe: Studien und Materialien zur Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. 118)
Folgender Beitrag von Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Detlef Horn ist am 27.5.2021 in FAZ Einspruch erschienen:
Was bleibt vom „Recht auf Demokratie“?
Von Hans-Detlef Horn
Den bisherigen Erfolg des EZB-Verfahrens vor dem Verfassungsgericht darf man nicht unterschätzen. Mit der jüngsten Vollstreckungsentscheidung hinterlässt Karlsruhe aber einen fatalen Eindruck.
Der Beitrag von Reinhard Müller in der Printausgabe der F.A.Z. vom vergangenen Samstag „Kein Freifahrschein“ will vermutlich auch ein Signal geben, allemal an die EZB, aber vielleicht auch an die Beschwerdeführer, die mit ihrem (Vollstreckungs-)Antrag an das Bundesverfassungsgericht, die Befolgung des PSPP-Urteils vom 5. Mai 2020 zu kontrollieren, kürzlich gescheitert waren. Dennoch, so Müller, bleibe die EZB „weiter unter Karlsruher Aufsicht“, substantiierte Klagen seien weiterhin möglich. Das Signal ist richtig und wichtig, schon deshalb, weil sich viele Beobachter verständlicherweise fragen, was denn nun von dem jahrelangen „Kampf um’s Recht“ und dem epochalen Urteil des vergangenen Jahres praktisch übrig geblieben ist.
Man darf den Erfolg gewiss nicht unterschätzen, der darin liegt, dass sich die EZB inzwischen darauf eingelassen hat, die Verhältnismäßigkeit ihrer Anleihenkäufe in den Blick zu nehmen. Insofern hat im EZB-Rat eine andere Kultur Einzug gehalten. Das ist nicht wenig. Immerhin hatte sich die EZB während des gesamten Verfahrens – und vom Europäischen Gerichtshof nicht beanstandet – geweigert, die tiefgreifenden wirtschafts-, fiskal- und sozialpolitischen Nebenwirkungen des PSPP als einen der maßgeblichen Gesichtspunkte anzuerkennen, der die Grenzen ihres geldpolitischen Mandats bestimmt; derartige Kollaterale seien von den Mitgliedstaaten zu verarbeiten (deren Regierungen diese freilich fatalerweise genügsam hinnehmen). Auch nach dem Urteil vom 5. Mai 2020 hatte sie sich noch geraume Zeit dagegen verwehrt, über eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechenschaft abzulegen.
Wenn aber jetzt, nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2021, der Eindruck entsteht, dass dafür, wie Volker Wieland sagt, „nur ein langer Aufsatz“ genüge, „in dem alle Argumente, die einem einfallen, mal aufgeführt werden“, dann kann man dem kaum widersprechen. Denn nichts anderes, schon gar nicht eine quantitative Prüfung und konkrete Beschlussfassung über die Verhältnismäßigkeit des PSPP, „liefert“ die Zusammenfassung der Sitzung des EZB-Rats vom 3.-4. Juni 2020. Doch nach Ansicht des Gerichts handelt es sich dabei um jenes Dokument, das maßgeblich belege, dass Bundesregierung und Bundestag (mit Parlamentsbeschluss vom 2. Juli 2020) ihrer Integrationsverantwortung für ein mandatskonformes Agieren der EZB hinreichend nachgekommen seien.
Der Grund dafür ist, dass es, so das Gericht, auf Weiteres nicht mehr ankomme. Es reiche aus, dass die EZB die bislang vermisste Verhältnismäßigkeitsprüfung überhaupt „zum Gegenstand gemacht“ habe. Auch das Abnicken der Verfassungsorgane komme nicht einer gänzlichen Untätigkeit gleich. Hingegen sei es „im vorliegenden Zusammenhang nicht entscheidend“, ob diese Prüfung auch den materiellen Anforderungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV genüge. Just eine solche, materiell hinreichende Verhältnismäßigkeitsprüfung hatte freilich das Sachurteil vom 5. Mai 2020 gefordert. Ob diese (definitive) Vorgabe erfüllt ist, verlangt dann natürlich eine nachträgliche verfassungsrechtliche Würdigung. Wie sonst? Das geht nicht über die Sachentscheidung hinaus, sondern betrifft diese gerade und die von ihr ausgesprochene Rechtspflicht.
Kupiertes “Recht auf Demokratie”
Gleichwohl: Die Tür scheint damit nicht vollends zugeschlagen, sondern einen Spalt weit offengelassen: für die Möglichkeit einer neuen Verfassungsbeschwerde. Doch das mag vielleicht für die Rüge gelten, die fortgesetzten Staatsanleihenkäufe der EZB verstießen offensichtlich gegen das monetäre Finanzierungsverbot. Denn insoweit hat das Bundesverfassungsgericht bislang nur Bedenken geäußert und Bedingungen vorgegeben. Anders sieht es hingegen für den Einwand aus, dass die EZB ihre Handlungskompetenz zu Lasten der mitgliedstaatlichen Politikbereiche unverhältnismäßig ausdehne. Versucht man nämlich durch jenen Spalt zu blicken, dann zeigt sich, dass der Weg dahinter zu nichts führt. Hier würde man wieder an den gleichen Punkt gelangen, an dem wir schon stehen:
Das „Recht auf Demokratie“ zur Verteidigung der Verfassungsidentität sieht sich am Ende auf den Anspruch kupiert, dass EZB und Verfassungsorgane das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zur Kenntnis nehmen und sich mit dessen verhältnismäßiger Beachtung irgendwie nachvollziehbar beschäftigen. Weitergehende inhaltliche Anforderungen werden zwar ursprünglich gestellt, aber nicht nachträglich kontrolliert. Dass mehr nicht bleibt, scheint zudem jene Stelle (Randnummer 94) im Beschluss vom 29. April betonen zu wollen, in der das Gericht diesen reduzierten Kontrollanspruch in eigenartiger Weise an den materiellen Gehalt des Anspruchs auf Demokratie rückkoppelt, der nach der Schutzpflichtendoktrin am Ende auch nicht weiter reiche. Die Kontrolldichte, die in einem neuen Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erwarten ist, dürfte sich daher im Vergleich zu der des Vollstreckungsverfahrens allenfalls minimal verschieben.
Büßt die Ultra-vires-Kontrolle ihre Funktion ein?
Insgesamt wird man fragen müssen, ob nicht die seit dem Maastricht- und dem Lissabon-Urteil zunehmend ausdifferenzierte, verkomplizierte, aus- und zurückweichende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Ultra-vires-Kontrolle von Unionsakten allmählich ihre erwartungssichernde Funktion einzubüßen droht.
Die Frage erhebt sich durchaus auch, sieht man auf den Beschluss vom 15. April 2021, der den Eilantrag gegen die Ausfertigung des Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetzes (vom 23. April 2021) abgelehnt hat. Selbstverständlich ist gegen die Folgenabwägung, die Stattgabe des Antrags hätte massive Beeinträchtigungen der deutsch-französischen Freundschaft zur Folge gehabt, rechtlich nichts einzuwenden. Aber im Übrigen hinterlässt die Begründung doch einige Fragezeichen, die nach der bisherigen Rechtsprechung nicht zu erwarten gewesen waren: Etwa die überraschende Feststellung, dass mit dem Gesetz keine Hoheitsrechte im Sinne des Art. 23 Abs. 1 GG übertragen würden. Oder die vollständige Ausblendung der Ultra-vires-Kontrolle des zugrunde liegenden Eigenmittelbeschlusses des Rates, mit dem die Union (in Höhe von 750 Mrd. Euro) erstmals in der Geschichte und ohne Vertragsänderung zur Kreditfinanzierung ihrer Aufgaben ermächtigt wird.
Kein Freifahrtschein
In einem Punkt lässt sich indessen eine Parallele zur Ablehnung des Vollstreckungsantrags in der PSPP-Sache feststellen: Auch hier gilt: Die Ablehnung des Eilantrags bedeutet „keinen Freifahrschein“. Die EU-Verschuldung bleibt unter Karlsruher Aufsicht, das Hauptsacheverfahren steht noch aus. Doch in dem Maße, wie der effektive Rechtsschutz des Rechts auf Demokratie offen gehalten wird, so wird er auch auf die Zukunft verwiesen, von der eben immer weniger gesagt werden kann, ob sie mehr oder weniger verspricht.
Die Eule der Minerva erhebt bekanntlich erst in der Dämmerung ihren Flug. Das gehört zum Wesen der gewaltenteiligen Ordnung des demokratischen Rechtsstaats. Und die Möglichkeit, nach Karlsruhe zu gehen, bietet – selbstredend – keinen Ersatz für Politik. Aber dass das Gericht immer erst im Nachhinein entscheiden kann, sollte nicht zum Kalkül der Politik werden.
Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Detlef Horn ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Marburg.
Er ist Prozessvertreter in den im Text erwähnten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.
Der Text ist erschienen in F.A.Z. Einspruch vom 27. Mai 2021, https://www.faz.net/einspruch/exklusiv/ezb-entscheidung-was-bleibt-vom-recht-auf-demokratie-17359357.html.