Analyse  zur Kritik am BVerfG-Urteil zu Staatsanleihenkäufen:

Das Karlsruher Urteil ist ein Sieg für die Demokratie

In einer aufsehenerregenden Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) als verfassungswidrig eingestuft. Prompt melden sich zahllose Stimmen aus dem In- und Ausland, die dieses Urteil mit scharfen Worten kritisieren und den Verfassungsrichtern vorwerfen, die EU zu destabilisieren.

Nichts ist falscher und nichts ist ungerechter als dieser Vorwurf. Denn das Bundesverfassungsgericht hat einen Grundwert der EU verteidigt: Die Demokratie. Wie es der Präsident des Bundesverfassungsgerichts zu Beginn der Urteilsverkündigung sagte: Das Bundesverfassungsgericht konnte gar nicht anders urteilen. Denn das demokratische Prinzip gehört zum unverletzlichen Kernbereich des Grundgesetzes.

 

Was haben die Staatsanleihenkäufe der EZB mit Demokratie zu tun?

Grundprinzip der Demokratie ist es, dass jede staatliche Institution der demokratischen Kontrolle unterliegt. Wer aber kontrolliert die EZB?

Die Europäische Zentralbank wurde bewusst als eine unabhängige Institution geschaffen. Sie unterliegt weder der Kontrolle eines Parlaments, noch der Kontrolle einer demokratisch gewählten Regierung. Sie unterliegt auch nicht der Kontrolle der Europäischen Kommission.

Diese Unabhängigkeit ist richtig. Denn wenn ein Parlament oder eine Regierung die Kontrolle über die Zentralbank hätte, dann wäre die Geldwertstabilität in Gefahr. Parlamente und Regierungen geben nun mal gerne Geld aus und Zentralbanken können Geld in beliebiger Menge drucken. Offenkundig ist es gut, wenn die Zentralbank dies unabhängig von den Begehrlichkeiten der Politiker tut.

Es ist daher richtig, dass die EZB der demokratischen Kontrolle durch Parlament und Regierung entzogen ist. Dann aber, so hat es das Bundesverfassungsgericht immer wieder betont, muss die EZB zumindest einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen. In einem demokratischen Staat gibt es keine andere Instanz, die die Zentralbank kontrollieren kann.

 

Gerichtliche Kontrolle

heißt nicht, dass die Gerichte der Zentralbank vorschreiben, wie sie ihre Aufgaben zu erledigen hat. Gerichte wachen lediglich darüber, dass die Zentralbank sich an die Gesetze hält. Gesetze werden demokratisch beschlossen und über ihre Einhaltung wachen die Gerichte. Auch eine Zentralbank darf nur das tun, wozu sie durch demokratisch beschlossene Gesetze befugt wurde.

Das ist der springende Punkt. Es geht nicht um die Frage, ob die gewaltigen Staatsanleihenkäufe der EZB ökonomisch richtig und zweckmäßig sind. Es geht um die Frage, ob die EZB vom Gesetzgeber zu diesen Käufen ermächtigt wurde. Es geht um die Kontrolle darüber, dass die EZB sich an die Gesetze hält. Auch wenn sie sich vielleicht wünscht, dass die Gesetze anders geschrieben worden wären.

Käufe von Staatsanleihen versorgen einen Staat mit frischem Geld. Unter welchen Umständen und in welchen Mengen die EZB, die sich ihr Geld selbst drucken kann, Staatsanleihen kaufen darf, soll hier nicht erörtert werden. Das festzustellen ist Sache der Gerichte. Zwei Gerichte wurden dazu befragt: Das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof.

 

Der Europäische Gerichtshof (EuGH)

befand, dass alles in Ordnung sei und teilte dies dem Bundesverfassungsgericht mit. Normalerweise ist die Rechtsauffassung des EuGH für das Bundesverfassunggericht bindend, selbst wenn es sie für falsch hält.

Aber das Bundesverfassungsgericht las das Urteil des EuGH und erblasste. Denn was der EuGH geurteilt hatte, war nach Auffassung der Verfassungsrichter „nicht nachvollziehbar“, „methodisch nicht vertretbar“ und „willkürlich“. Kurz: Der EuGH hatte die gerichtliche Kontrolle der EZB, zu der er verpflichtet ist, nicht ausgeübt. Schlimmer noch: Er hatte die EZB-Staatsanleihenkäufe gebilligt, obwohl sie gegen ein Grundprinzip des EU-Rechts verstießen.

 

Es geht um das Prinzip der „Verhältnismäßigkeit“,

das im EU-Vertrag und in den Rechtsordnungen aller EU-Mitgliedsstaaten festgeschrieben ist. Der etwas technische Begriff „Verhältnismäßigkeit“ besagt, dass staatliche Institutionen wie bei der Einnahme eines Medikaments drei Dinge prüfen müssen: Was ist der Nutzen? Was sind die Nebenwirkungen? Und vor allem: Steht der Nutzen in einem sinnvollen Verhältnis zu den (schädlichen) Nebenwirkungen?

Die letzte Frage ist die „Verhältnismäßigkeit“. Mit den Staatsanleihenkäufen wollte die EZB die Inflationsrate auf knapp unter 2% erhöhen, die Zinsen senken und die Kreditvergabe erleichtern. Das ist der Nutzen. Als Nebenwirkungen zählt das Bundesverfassungsgericht auf: Sparer erleiden Einkommensverluste, in Innenstädten kann es zu Immobilienpreisblasen kommen, die Mieten steigen wegen steigender Immobilienpreise, niedrige Zinsen gefährden die private Altersvorsorge, Bankrisiken wandern in die Zentralbankbilanzen, Staaten überschulden sich und betreiben keine solide Haushaltspolitik. Diese Liste, so das Bundesverfassungsgericht, ist nicht vollständig.

 

Keine dieser Nebenwirkungen, so bemängelt das Bundesverfassungsgericht, hat die EZB benannt.

Nie hat sie ermittelt, ob die schädlichen Wirkungen größer sind als der angestrebte Nutzen. Damit hat die EZB gesetzwidrig gehandelt. Denn zu dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung war sie verpflichtet. Man darf die schädlichen Nebenwirkungen nicht in Kauf nehmen, ohne ihre Größe zu kennen.

Der EuGH, so das Bundesverfassungsgericht, hat die gebotene gerichtliche Kontrolle der EZB nicht ausgeübt. Obwohl die Verhältnismäßigkeit vom EU-Recht geboten ist, hat der EuGH die EZB nicht in die Schranken gewiesen. Er hat ihr Gesetzestreue attestiert, ohne seinerseits die Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Er hat damit selbst gegen EU-Recht verstoßen. Sein Urteil über die EZB ist folglich nichtig.

Das ist alles. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass der EuGH pflichtwidrig keine gerichtliche Kontrolle über die EZB ausübt. Deshalb hat es diese Kontrolle selbst ausgeübt. Dafür ist es da. Das ist seine Aufgabe. Gerichte müssen über die Einhaltung der Gesetze wachen. Denn Gesetze sind der Ausdruck des demokratischen Willens. Das Bundesverfassungsgericht musste urteilen, wie es geurteilt hat: Im Sinne der Demokratie. Es hat der Demokratie einen großen Dienst erwiesen.