Kritiker des EZB-Urteils sollten die Logik achten
( Beitrag in der FAZ vom 17.6.2020)
Die Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) sind am 5. Mai vom Bundesverfassungsgericht als ein durch die Europäischen Verträge nicht gedeckter, kompetenzüberschreitender Akt verurteilt worden. Nicht nur verstoße die Mitwirkung der Bundesbank an solchen sog. ultra-vires-Akten gegen das Grundgesetz, sondern Bundestag und Bundesregierung seien verpflichtet, aktiv auf ein vertragskonformes Verhalten der EZB hinzuwirken.
Das Urteil ist von einigen Ökonomen (Bofinger et al., FAZ vom 29.5.) als Angriff auf die Unabhängigkeit der EZB kritisiert worden. Jedoch ist deren Argumentation aufgrund offenbarer logischer Mängel methodisch nicht vertretbar. Die vermeintliche Schlussfolgerung ist daher nicht nachvollziehbar und objektiv willkürlich.
Bofinger et al. nehmen Anstoß an der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, die EZB habe zu prüfen versäumt, ob die Staatsanleihenkäufe dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Artikel 5 des EU-Vertrages entsprechen. Als „verhältnismäßig“ gilt eine Maßnahme, wenn sie nicht nur geeignet und erforderlich, sondern auch in Bezug auf ihre Nebenwirkungen angemessen ist.
Die durch Staatsanleihenkäufe verursachten Zinssenkungen können nicht nur monetäre, sondern auch erhebliche reale (Neben-)Wirkungen haben. Manche, zum Beispiel vermehrte unternehmerische Investitionen, sind erwünscht. Andere sind unerwünscht, etwa eine Entwertung der kapitalgedeckten Altersvorsorge. Ebenso unerwünscht sind neue Risiken für die Finanzstabilität, weil das Kerngeschäft der Banken, die Fristentransformation, unprofitabel wird. Wichtige wirtschaftspolitische Ziele der Mitgliedsstaaten darf die EZB nicht untergraben.
Geldpolitische Entscheidungen der EZB haben stets eine Vielzahl von realwirtschaftlichen Dimensionen. Bofinger et al. halten es für einen Angriff auf die Unabhängigkeit der EZB, wenn die EZB dazu verpflichtet wäre, bei geldpolitischen Entscheidungen eine multidimensionale Folgenabschätzung vorzunehmen.
Denn eine solche Abschätzung erfordere es, dass die EZB alle wesentlichen Folgen ihrer Handlungen bewerte, sie gegeneinander gewichte und in einer Gesamtwürdigung über ihre Angemessenheit entscheide. Dabei müssten erstens die wirtschaftspolitischen Wirkungen zueinander ins Verhältnis gesetzt und zweitens diese Wirkungen gegen das vorrangige Ziel der Preisstabilität abgewogen werden. Für eine solche Bewertung und Gewichtung habe die EZB keine Maßstäbe. Weder seien sie vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben worden noch sei die EZB demokratisch legitimiert, sie selbstständig zu setzen.
Diese Argumentation ist logisch defizient. Bofinger et al. beschwören dramatisch eine „Gefahr für die Unabhängigkeit“ der EZB, weil die EZB „nur dem Ziel der Preisstabilität“ (und nicht irgendwelchen Nebenzielen) verpflichtet sein dürfe. Ein absoluter Vorrang der Preisstabilität ist aber keine notwendige Bedingung für die Unabhängigkeit einer Zentralbank. Bofinger et al. weisen selbst auf das Beispiel der (unabhängigen) amerikanischen Federal Reserve hin, die gesetzlich verpflichtet ist, Preisstabilität gegen das Ziel hoher Beschäftigung abzuwägen.
Zudem ist es falsch, für die EZB eine ausschließliche Verpflichtung auf die Preisstabilität zu behaupten. Das gab es nie. Denn schon immer musste die EZB auch das Verhältnismäßigkeitsgebot von Art. 5 EUV beachten. Gerade weil sie unabhängig ist, also keiner keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegt, wurde per Gesetz gesichert, dass die EZB weder das Geldvermögen der Bürger durch Inflation entwertet, noch ihnen auf andere Art unverhältnismäßig schadet, etwa mittels negativer Realzinsen die Altersvorsorge aushöhlt.
Nun monieren Bofinger et al., dass das Urteil keine Maßstäbe dafür enthalte, wie die EZB die geforderte Gewichtung und Bewertung multidimensionaler Folgewirkungen ihrer Staatsanleihenkäufe vornehmen solle. Dieser Vorwurf verletzt elementare Regeln der Logik. Denn wenn das Bundesverfassungsgericht solche Maßstäbe vorgegeben hätte, wäre genau dies ein Angriff auf die Unabhängigkeit der EZB, weil sie dann nicht mehr nach eigenem Ermessen urteilen könnte.
Zudem ist es nicht Aufgabe eines Gerichts, solche Maßstäbe zu setzen. Bofinger et al. verkennen, dass ein Rechtsprechungsorgan in der gewaltenteiligen Ordnung auf Kontrolle beschränkt ist. Die Maßstäbe, nach denen die EZB handelt, sind vom Gesetzgeber zu beschließen oder in das Ermessen der EZB zu stellen.
Im europäischen Recht ist überwiegend letzteres der Fall. Deshalb ist es völlig unverständlich, weshalb Bofinger et al. behaupten, der EZB mangele es an Legitimation, die vielfältigen Folgen ihrer Politik abzuwägen. Denn Bofinger et al. weisen selbst auf die Legitimationsbasis in Art. 119 AEUV hin. Danach muss die EZB vorrangig das Ziel der Preisstabilität verfolgen und „unbeschadet dieses Zieles die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union … unterstützen“.
Daraus folgt, dass die EZB zur Bewertung befugt ist, welche ihrer Maßnahmen die Wirtschaftspolitik in der EU „unterstützen“ und welche ihr zuwiderlaufen. Sie muss feststellen, ob zum Beispiel ein Zins, der unternehmerische Investitionen verbilligt, die Profitabilität des Bankensektors schwächt und die Anstrengungen zur Förderung privater Altersvorsorge konterkariert, summa summarum eine Unterstützung oder ein Hintertreiben mitgliedsstaatlicher Wirtschaftspolitik darstellt.
Dies erfordert zwingend, dass die EZB wirtschaftspolitische Effekte detailliert bewertet und gewichtet gegeneinander abwägt. Es ist falsch, wenn Bofinger et al. behaupten, die EZB sei dazu nicht legitimiert. Die Legitimation ergibt sich unmittelbar aus Artikel 119 AEUV, ebenso wie sich dort als Maßstab ergibt, dass Maßnahmen der EZB die Marktwirtschaft, den freien Wettbewerb und gesunde öffentliche Finanzen nicht beeinträchtigen dürfen.
Nicht nur die Befugnis zur Bewertung und Gewichtung multipler wirtschaftspolitischer Effekte folgt aus Artikel 119, sondern auch die Befugnis, letztere gegen mögliche Auswirkungen auf die Preisstabilität abzuwägen. Die EZB soll beurteilen, ob die Unterstützung der Wirtschaftspolitik „unbeschadet“ des Preisstabilitätsziels erfolgen kann. Also wird ihr vom Gesetz die Kompetenz zuerkannt, Inflationswirkungen wertend anderen wirtschaftlichen Folgen einer Maßnahme gegenüberzustellen.
„Preisstabilität“ ist ein unscharfer Begriff. Ab zwei Prozent Inflation gilt die Preisstabilität als gefährdet – darunter hat die EZB Beurteilungsspielraum. Es obliegt ihrem Ermessen, wann wirtschaftspolitisch nicht unterstützt werden kann, weil die Inflationswirkung „zu groß“ wären. Folglich – und darum ging es in Karlsruhe – ist sie auch zur Beurteilung legitimiert, wann die Inflationswirkung von Staatsanleihenkäufen „zu gering“ ist, um die realwirtschaftlichen Nebenwirkungen zu rechtfertigen.
Die EZB hat übrigens nie ein Legitimationsdefizit behauptet. Vielmehr hat sie stets versichert, die wirtschaftlichen Auswirkungen ihrer Maßnahmen eingehend abzuschätzen. Im Widerstreit zu ihrer Unabhängigkeit sah sie dies nie.
Bofinger et al. irren: Die Unabhängigkeit einer Zentralbank hat nichts mit der Frage zu tun, ob Bewertungsmaßstäbe für Wirkungen der Geldpolitik existieren oder welche demokratische Legitimation sie besitzen. Auch eine völlig unabhängige Zentralbank ist nicht gehindert, die Auswirkungen ihrer Politik multidimensional zu gewichten und zu bewerten.
Mit anderen Worten: Die EZB darf – in voller Unabhängigkeit – die Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen abschätzen und sie muss es tun. Nicht nur aus rechtlichen Gründen, sondern auch, weil sie – anders als die Bundesbank – eine supranationale Zentralbank ist. Ihr Währungsgebiet ist heterogen und deshalb sind die wirtschaftlichen Folgen ihrer Geldpolitik nicht für jeden Mitgliedsstaat zwangsläufig vorteilhaft. Daraus ergibt sich ein erhöhter Begründungszwang, dem die Bundesbank in dieser Form nie ausgesetzt war. Die EZB ist es – und nur, wenn sie ihm Folge leistet, wird ihre Unabhängigkeit auch künftig weite Akzeptanz finden.