15.6.2022
Kommt die Euro-Krise zurück?

Die EZB hat heute eilig eine Notsitzung zusammengetrommelt. Dringend musste eine Lösung gefunden werden, um das hochverschuldete Italien zu „retten“- was bei der aktuell hohen Inflationsrate besonders problematisch ist. Eine Lösung wurde gefunden, die das Problem aber nur verschärft. Hochverschuldeten Staaten wird eine weitere Verschuldung erleichtert, dafür solideren Staaten erschwert. Weitere Maßnahmen werden wohl noch erforderlich werden.

Die Europäische Zentralbank (EZB) ist die Notenbank der Eurozone. Nachdem sie heute zu einer Notsitzung zusammenkam, könnte man statt Notenbank wohl auch Notbank schreiben. Denn in der Eurozone knirscht es wieder gewaltig und Erinnerungen an die Staatsschulden- und Eurokrise der Jahre 2010 bis 2013 werden wach.

Erinnern wir uns: Etliche, vor allem südeuropäische Länder, waren 2010 so stark verschuldet, dass Staatsinsolvenzen befürchtet wurden. Private Anleger trennten sich deshalb von den Staatsanleihen der (überwiegend südeuropäischen) Krisenstaaten.

Verkäufer gab es viele, Kaufwillige viel weniger. Also sanken die Preise und die Zinsen stiegen. Steigende Zinsen aber verschlimmerten die Situation der Krisenstaaten, weil damit ihre Kosten für Neuverschuldung anstiegen. In den solideren Eurostaaten hingegen war die Situation genau umgekehrt, denn ein guter Teil des flüchtenden Kapitals wurde in sichere deutsche oder holländische Papiere investiert. Eine ähnliche Situation zeichnet sich heute ab.

 

Die EZB kaufte Anleihen, die sonst niemand haben wollte

Damals konnten auch einige hastig geknüpfte Rettungsschirme der Situation nicht Herr werden: Die Eurozone driftete auseinander. Bis die EZB im Jahr 2015 entschied, dass sie die Anleihen kaufen würde, für die sich sonst kein Käufer fand. Mehr noch: Weil es problematisch wäre, wenn die EZB selektiv einzelne Staaten schützt, entschied sie, dass sie nicht nur in den Krisenstaaten, sondern flächendeckend überall in der Eurozone in noch nie dagewesenem Umfang Staatsanleihen kaufen würde. So viel, dass die Zinsen überall sanken, teilweise bis in den negativen Bereich.

Stand heute hat die EZB für mehr als 4400 Milliarden Euro Staatsanleihen aufgekauft. Das ist weit mehr als das Doppelte des gesamten Schuldenberges, der seit 1949 von allen Bundeshaushalten aufgetürmt wurde. Und der Clou ist: Die EZB kann sich das Geld für diese Käufe selber drucken. Je mehr sie kauft, desto mehr Geld bringt sie in Umlauf.

 

Die Schulden der südlichen Staaten sind heute höher als zuvor

Wo liegt das Problem? Es sind eigentlich zwei Probleme. Das erste heißt Inflation – mehr dazu unten. Das zweite aber heißt Schulden: Die Überschuldung der südlichen Eurostaaten wurde durch die EZB nur scheinbar entschärft. Tatsächlich sind die Schulden der Mittelmeerstaaten (und mancher anderer in der Eurozone) heute höher (!) als zu Beginn der Staatsschuldenkrise. Sowohl absolut als auch relativ zum BIP.

Da muss man sich nicht wundern: Die EZB hat die überschuldeten Staaten gerettet. Sie glaubte, sie retten zu müssen, weil sonst der Euro gefährdet wäre. Damit aber hat die EZB zugleich eine Einladung ausgesprochen, neue Schulden aufzunehmen: Denn je höher die Schulden der Krisenstaaten, desto gefährdeter ist demnach der Euro. Desto sicherer also können die Schuldner darauf rechnen, erneut gerettet zu werden.

Wer das nicht glaubt, der höre auf EZB-Direktorin Isabel Schnabel. Letzten Dienstag sprach sie in Paris über die neuen Krisenerscheinungen: Das Engagement der EZB für den Euro kenne keine Grenzen. Ganz offensichtlich echot sie hier Mario Draghis „Whatever it takes…“. Man musste also gar nicht auf die heutige Notsitzung der EZB warten, um zu wissen, wohin die Reise gehen wird: Die EZB wird noch mehr Schuldtitel der Krisenstaaten aufkaufen.

 

Die Inflation lag 2015 bei null Prozent

Die Sache hat aber einen Haken: Inzwischen haben wir 8% Inflation. Das war 2015 anders. Damals lag die Inflation bei null Prozent. Naive Gemüter nennen dies Preisstabilität, aber die EZB, die Hüterin der Preisstabilität, strebte knappe 2% Inflation an. 2015 hatte der massive Aufkauf von Staatsanleihen also noch einen angenehmen Nebeneffekt: Denn die EZB wollte ohnehin die Inflationsrate erhöhen.

Allerdings hat dies zunächst nicht so recht geklappt. Trotz der Flut an frisch gedrucktem Geld lag die Inflation in der Eurozone mehrere Jahre lang weiterhin auf sehr niedrigem Niveau. Und als sie schließlich stieg, kümmerte sie sich um das 2%-Ziel der EZB ziemlich wenig.

So haben wir heute 8% Inflation und deshalb sollte die EZB die Geldmenge nicht noch weiter durch Wertpapierkäufe aufblähen. Andererseits will die EZB gerne südeuropäische Staatsanleihen kaufen, um die dortigen Zinsanstiege zu dämpfen. Was tun?

 

Mit Entscheidungen auf einer Notsitzung will die EZB den Euro retten

Dafür war die heutige Notsitzung da. Beschlossen wurde ein Spagat. Die EZB hat ja schon reichlich Staatsanleihen und regelmäßig erreichen einige Anleihen ihre Fälligkeit: Sie werden zurückgezahlt. Das will die EZB nutzen, um von deutschen Staatsanleihen in italienische Papiere umzuschichten.

Im Prinzip geht das so: Wenn künftig die Bundesrepublik Deutschland eine deutsche Anleihe tilgt, wird die EZB für das Geld eine italienische Staatsanleihe kaufen. Die Geldmenge bleibt also gleich, aber die Zinsen steigen in Deutschland und sinken in Italien. Für Deutschland wird die Staatsverschuldung teurer und für Italien wird sie billiger. Immer im Vergleich zu einer Situation ohne EZB-Interventionen.

 

Das hochverschuldete Italien kann sich künftig noch leichter verschulden

Das mutet absurd an. Italien ist hoch verschuldet, Deutschland nicht. Dennoch erleichtert die heutige EZB-Entscheidung Italien die Verschuldung – und erschwert sie für Deutschland. Und je höher Italien verschuldet ist, desto erpressbarer ist die EZB. Denn wenn Italien seine Schulden nicht mehr bedienen kann, dann könnte der Euro scheitern. Aber da – laut Frau Schnabel – das Engagement der EZB für den Euro keine Grenzen kennt, weiß Italien, dass es unbegrenzt gerettet werden wird. Also muss es keine Schulden scheuen.

Übrigens ist diese Umschichtung innerhalb der 4400 Milliarden Euro an Staatsanleihen offenbar keineswegs ausreichend. Jedenfalls nicht in den Augen der EZB. Denn die EZB hat heute auch beschlossen, „die Fertigstellung eines neuen Kriseninstruments zu beschleunigen“. Eile scheint angesagt bei unserer Notbank. Was sie genau im Sinn hat, weiß man noch nicht, aber es kann wohl nur darauf hinauslaufen, dass die EZB die Staatsanleihen der südeuropäischen Staaten in noch viel größerem Umfang kaufen wird.

 

Die EZB löscht den Brand mit Zunder

Die EZB verliert so ihre Unabhängigkeit. Genauer: Sie hat sie bereits verloren. Sie wird mehr und mehr zum Gläubiger von Staaten, die bei normalen Zinsen ihre Staatsschulden nicht mehr bedienen könnten. Deshalb muss die EZB die Zinsen dieser Staaten künstlich verbilligen. Doch so löscht die EZB einen Brand mit Zunder. Die Schuldenkrise wird mittelfristig nur verschärft. Und mit dem eigentlichen Auftrag der EZB, der Wahrung der Preisstabilität, hat das alles herzlich wenig zu tun.

https://www.cicero.de/wirtschaft/notsitzung-europaische-zentralbank-ezb-italien-schulden-euro