Bericht in der FAZ:

„Next Generation EU“ mit gemeinsamen Schulden

Von Hans-Detlef Horn (Prozessführer der Verfassungsbeschwerde) *

Wenn Politik die Kunst des Möglichen ist, dann kann man dem Aufbaupaket „Next Generation EU“ eines konzedieren: Mit hoher, auch juristischer Kunstfertigkeit soll möglich werden, was bislang unmöglich erschien. Die Antriebskräfte verdanken sich einmal mehr einer Krise. Corona kann schwerlich hinweggedacht werden. Das Paket ist das Produkt eines Krisenmanagements, das der Union eine neue Integrationsstufe verheißt. Nicht ausgemacht ist allerdings, ob damit nicht eher im Konfliktmanagement der EU eine neue Eskalationsstufe erreicht ist.

Mit dem Paket wird eine alte, zumal französische Forderung wiederbelebt, die zuletzt mehr Brems- als Triebkräften ausgesetzt war: dass die Union über mehr eigene Mittel verfügen müsse, um bei wirtschaftlichen Schocks in den Mitgliedstaaten öffentliche Investitionen zu unterstützen. Zu nennen sind hier etwa die Vorstöße zur Schaffung einer Europäischen Investitionsstabilisierungsfunktion, eines Eurozonen-Budgets, eines Haushaltsinstruments für Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit oder eines Europäischen Währungsfonds. Dahinter steht vor allem das Motiv, die vielbeklagte fiskalische Lücke in der Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion ohne Vertragsänderung zu schließen und dadurch die Unterschiede zwischen den Volkswirtschaften abzubauen.

Doch nun, in Zeiten, in denen die Abfederung der Pandemie-Folgen ohnehin auf den Staatshaushalten lastet, musste zudem verhindert werden, dass die EU zur (Re-)Finanzierung solcher Unterstützungen auf (Beitrags-)Zahlungen oder Garantien der Mitgliedstaaten angewiesen ist. Die Konstruktion des Aufbaupakets liefert die Lösung. Ein großer Akt europäischer Solidarität, indes das Motto lautet: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“. Das ist die Kunst: Es wird bei der EU ein zweckgebundener Sonder- oder Nebenhaushalt geschaffen; das ist das Aufbauinstrument (Recovery Instrument – RI). Dessen Gelder werden über verschiedene Programme in Form von Zuschüssen und Darlehen an die Mitgliedstaaten verteilt; im Zentrum steht die neue Aufbau- und Resilienzfazilität (Recovery and Resilience Facility – RRF). Finanziert wird der Sonderhaushalt dadurch, dass Fremdmittel aufgenommen werden, die aus den Eigenmitteln, also aus dem regulären EU-Haushalt bis 2058 zurückbezahlt werden sollen; das besagt der Eigenmittelbeschluss (Own Resources Decision – ORD).

An die Stelle der kurzfristigen Kassenfinanzierung tritt so ein langfristiges Verschuldungsszenario. Mit 750 Milliarden Euro macht es 70 Prozent des parallel zu beschließenden Mehrjährigen Finanzrahmens (Multiannual Financial Frame – MFF) aus. Ist das der Einstieg in eine Europäische Fiskal- und Schuldenunion?

Dazu muss die zeitliche Zäsur betrachtet werden, die mit dem Auslauf des siebenjährigen Finanzrahmens im Jahre 2027 eintritt. Bis dahin haben die Mitgliedstaaten für die Eigenmittel, die den Sonderhaushalt zurückführen sollen, eine Ausfallhaftung oder Nachschusspflicht übernommen, indem sie die Eigenmittelobergrenze nach Art eines virtuellen Rettungsschirms um 0,6 Prozent des Bruttonationaleinkommens der EU (BNE EU/27) erhöht haben. Auch im jeweiligen Jahreshaushaltsplan entstehen keine Schulden: Die Rückzahlung der Schulden aus den Eigenmitteln unterliegt ohne weiteres dem Gebot des Haushaltsausgleichs, während die Ausgaben des Sonderhaushalts, die aus diesen Schulden (als sogenannte „externe sonstige Einnahmen“) finanziert werden, nur das Gebot der Haushaltsdisziplin beachten müssen.

Doch die Lage ändert sich nach dem Jahr 2027. Zwar soll die virtuelle 0,6 Prozent-Anhebung der Obergrenze „längstens bis zum 31. Dezember 2058“ gelten. Dennoch bleibt die Art, wie die eingegangenen Verbindlichkeiten von 2028 an bedient werden sollen, von den zukünftigen Haushaltsplänen abhängig. Daher besteht die finanzielle Funktion der jetzigen Erhöhung der Eigenmittelobergrenze allein darin, die Solvabilität der EU und damit ihre Bonität an den Finanzmärkten über 2027 hinaus zu stützen.

Hier liegt das Moment, das die Haushaltsverfassung der EU tiefgreifend verändert. Das Finanzierungssystem wird vom Liquiditätsprinzip auf das Solvabilitätsprinzip umgestellt. Und damit stellt sich sogleich die Frage, auf welche Vermögenswerte sich diese Solvabilität oder Schuldentragfähigkeit gründet. Anders als die Staaten verfügt die EU nicht über eine souveräne Steuerkompetenz, sondern ist in ihrer Defizitfinanzierung vollständig von den Mitgliedstaaten abhängig, die ihr Mittel zuführen oder sie zur Erhebung von Mitteln ermächtigen.

Die Fremdfinanzierung des Aufbauinstruments führt in Höhe der nach 2027 noch offenen Verbindlichkeiten zu einer nicht von Liquidität oder Liquiditätszusagen gedeckten Schuldenlast der Union. Insoweit geht es um die Gegenwerte der von den Mitgliedstaaten nicht zurückzuzahlenden Zuschüsse sowie der Eventualverbindlichkeiten aus nicht zurückgeführten Darlehen. Dass die EZB mit ihren Ankaufprogrammen auch den Anleiheschulden der EU eine geduldige „Endlagerstätte“ bietet, ändert daran selbstverständlich nichts.

In dieser Verschuldungssituation basiert die Solvabilität der EU allein auf der grundsätzlichen Finanzierungspflicht der Mitgliedstaaten, die dazu anhält, die von ihnen getragene Union mit hinreichenden Mitteln auszustatten, solange sie besteht. Dabei handelt es sich aber nicht um eine irgendwie anteilig bemessene Finanzierungspflicht, sondern dem Wesen nach um eine gesamtschuldnerische. Während der jetzige Eigenmittelbeschluss bis ins Detail verhindert, dass bei den Mitgliedstaaten eine über den nationalen Anteil des Bruttonationaleinkommens hinausgehende Haftung anfällt, wandeln sich also die Anleiheschulden der EU aus heutiger Sicht ab 2028 zu jenen Gemeinschafts-Bonds, an denen sich mancherorts der Begriff von europäischer Solidarität überhaupt entscheidet.

Was folgt aus alldem in rechtlicher Hinsicht? Neben der Verabschiedung des Mittelfristigen Finanzrahmens geht es im Wesentlichen um zwei weitere Verordnungen (für die Mittelzuweisung nach dem Aufbauinstrument und die Mittelverwendung nach der Aufbau- und Resilienzfazilität) und den Eigenmittelbeschluss (für die Mittelbeschaffung). Alle drei Rechtsakte greifen ineinander, aber jeder einzelne bewegt sich, ebenso wie die jetzt hinzugetretene Verordnung zur Rechtsstaatskonditionalität, auf äußerst wackeliger Rechtsgrundlage. Dabei ist der Eigenmittelbeschluss der Akt, der die Verschuldung der Union gemäß Art. 311 Abs. 3 AEUV in das „System der Eigenmittel der Union“ zu integrieren sucht. Doch der juristische Kunstgriff provoziert den Einwand, ein Fehlgriff zu sein.

Zur Rechtfertigung wird argumentiert: Weil die Rückzahlung der Schulden aus den Eigenmitteln erfolgen soll, gehöre auch die Aufnahme der Schulden zum Eigenmittelsystem. Schon das nimmt sich ganz erheblich zirkulär aus. Überdies greift das Argument buchstäblich ins Leere, blickt man auf die Zeit nach 2027. Für diesen Zeitraum gibt es noch gar keine Eigenmittel, genauer: noch gar keine haushalterische Ermächtigung für Eigenmittelausgaben. Hier stellt sich die Rückzahlung der Schulden also nicht als Teil eines Eigenmittel-, sondern eines „Ohne-Eigenmittel-Systems“ dar. Auch für die Union stellen die Beiträge der Mitgliedstaaten, die klassische Finanzierungsquelle Internationaler Organisationen, die wesentliche Säule ihrer Eigenmittel dar. Diese auch tatsächlich zu leisten, dazu sind sie zwar, wie erwähnt, verpflichtet. Aber aus dieser Pflicht der Staaten folgt nicht ein Recht der Union, sich zu verschulden. Das herauszustellen, ist in der Bundestagsanhörung am 26. Oktober 2020 versäumt worden.

So gesehen kann der Eigenmittelbeschluss, soweit er die EU erstmals zu langfristiger Verschuldung ermächtigt, schwerlich im Rechtsrahmen des § 311 Abs. 3 AEUV untergebracht werden. Das gilt unabhängig davon, ob der Beschluss Sekundär- oder Primärrechtsqualität hat. Denn selbst als Teil des Primärrechts bleibt er auf Art. 311 AEUV bezogen, weil er allein dazu dient, das „System der Eigenmittel“ rechtsverbindlich zu konkretisieren. Eine Umstellung des Finanzierungssystems auf schuldenfinanzierte Aufgabenerledigung geht jedoch darüber hinaus, könnte also allenfalls durch eine ordentliche Vertragsänderung bewirkt werden – etwa vergleichbar zur vertraglichen Absicherung des ESM durch Art. 136 Abs. 3 AEUV. In der Konsequenz bedeutet das, dass Deutschland den Eigenmittelbeschluss nicht ratifizieren dürfte.

Unbeschadet dessen weist der Beschluss mit seiner Verschuldungsermächtigung nicht nur eine einfache Budgetrelevanz für den deutschen Bundeshaushalt auf. Auch im Hinblick auf die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spricht weit mehr dafür, hier zudem eine Verfassungsrelevanz anzunehmen, so dass es für das Zustimmungsgesetz jedenfalls einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat bedürfte. Das gilt freilich nur, wenn man nicht zudem noch die absolute Integrationsschranke des Grundgesetzes als berührt ansieht.

* Beitrag in leicht gekürzter Fassung erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 03.12.2020, S. 18. – Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Detlef Horn lehrt Öffentliches Recht an der Philipps-Universität Marburg.