Interview des Vorsitzenden von BBW, Ravel Meeth, mit Prof. Dr. Bernd Lucke (Universität Hamburg)
16.03.2025
BBW: Herr Prof. Lucke, ist Staatsverschuldung generell etwas Schlechtes?
Lucke: Das hängt ganz davon ab, was der Staat mit dem Geld macht. Wenn er es einfach verbraucht, also Konsum damit finanziert, dann ist Staatsverschuldung schlecht, denn die jetzige Generation konsumiert und die künftigen Generationen müssen diesen Konsum bezahlen – ohne dass sie etwas davon haben. Wenn der Staat aber mit dem Geld Werte schafft und an die nächste Generation weitergibt, dann können Schulden sehr sinnvoll sein. Wenn der Staat mit Schulden eine Brücke baut, dann erbt die nächste Generation nicht nur die Schulden, sondern auch die Brücke. Im Idealfall entspricht der Wert der Brücke genau dem Wert der Schulden - da kann sich die nächste Generation nicht beschweren.
BBW: Nun sind in Deutschland aber viele Brücken inzwischen sehr marode ...
Lucke: Richtig, Brücken und überhaupt alle Infrastruktureinrichtungen verschleißen im Laufe der Zeit. Es gibt Alterung und Abnutzung, die den Wert mindern. Das wäre kein Problem, wenn der Staat die Infrastruktur laufend instandhalten würde. Es wäre auch kein Problem, wenn er die aufgenommenen Schulden peu à peu zurückzahlen würde - am besten genau in dem Maße, in dem die Infrastruktur an Wert verliert. Nur leider werden Staatsschulden fast nie zurückgezahlt. Sie werden immer nur durch neue Staatsschulden ersetzt. Genauer: Der Staat zahlt die alten Schulden zurück, indem er neue Schulden aufnimmt.
BBW: Aber ist der Verschleiß der deutschen Infrastruktur nicht gerade ein guter Grund dafür, jetzt durch ein großes Sondervermögen Infrastrukturinvestitionen zu ermöglichen? Wir dürfen der nächsten Generation ja nicht einfach eine heruntergewirtschaftete Infrastruktur hinterlassen!
Lucke: Man muss unterscheiden, ob neue Infrastruktur geschaffen wird, oder ob die alte repariert oder ersetzt werden soll. Reparatur oder Ersatz sollte man gerade nicht aus Schulden finanzieren, denn sonst wird die kommende Generation ja doppelt belastet: Sie erbt die Schulden, mit denen die Brücke ursprünglich gebaut wurde und sie erbt die Schulden, mit denen diese Brücke jetzt durch eine neue ersetzt wird. Sie erbt also die Schulden von zwei Brücken, im Gegenwert von einer Brücke.
BBW: Und wie will man das Geld aus dem Sondervermögen verwenden – für Neues oder für Reparatur und Ersatz?
Lucke: Dazu ist meines Wissens noch nichts bekannt. Da so oft von unserer "maroden Infrastruktur" die Rede ist, fürchte ich, dass man vor allem bestehende Einrichtungen reparieren oder ersetzen will. Dies kreditfinanziert zu tun wäre nicht generationengerecht. Für diesen Zweck müsste man stattdessen Mittel aus den laufenden Steuereinnahmen zur Verfügung stellen, denn die Abnutzung der Infrastruktur ist ja ein Verbrauch. Verbrauch sollte nicht durch Schulden finanziert werden, denn der Verbrauch kommt allein der heutigen Generation zugute. Also sollte sie Steuergelder dafür nutzen, um Abnutzung wieder zu beheben.
BBW: Warum spricht man eigentlich von Sondervermögen, obwohl es sich doch um Schulden handelt?
Lucke: Das hat historische Gründe. Früher hat der Staat manche Einnahmequelle zweckgebunden verwendet, z. B. einen Wegezoll. Dafür musste dann der Weg gesichert werden oder auch eine Brücke gebaut werden. Das Recht auf Erhebung des Zolls hatte einen monetären Wert – es stellte also ein Vermögen dar. Man sprach von einem Sondervermögen, weil Einnahmen gesondert verwaltet wurden. Heute nutzt man den Begriff auch dann, wenn die einzige Einnahmequelle die Erlaubnis ist, sich außerhalb der Schuldenbremse zu verschulden.
BBW: Bevor man die Schuldenbremse beschloss, durfte die Neuverschuldung des Staates nie größer sein als seine Investitionen. War das nicht die bessere Regelung? Durch Investitionen werden doch Werte für künftige Generationen geschaffen.
Lucke: Nein, die frühere Regelung war schlechter. Denn zu den Investitionen des Staates gehören auch die Ersatz- und Reparaturinvestitionen – und die sollte man ja gerade nicht durch Schulden finanzieren, weil sie nur das ausgleichen, was die jetzige Generation verbraucht. Volkswirtschaftlich unterscheidet man zwischen Brutto- und Nettoinvestitionen. Die Nettoinvestitionen sind das, was wirklich an neuen Werten geschaffen wird. Die Bruttoinvestitionen aber enthalten darüber hinaus auch Ersatz- und Reparaturaufwendungen. Der alte Grundgesetzartikel bezog sich auf die Bruttoinvestitionen und ermöglichte deshalb eine zu hohe Verschuldung.
BBW: Was halten Sie davon, dass die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben ausgesetzt werden soll, sobald diese ein Prozent des BIPs übersteigen? Ist es so dringend nötig, die Bundeswehr zu stärken?
Lucke: Ich bin kein Wehrexperte, aber es scheint ja, als sei die Bundeswehr kaum noch kampffähig. Und es ist richtig und wichtig, dass wir eine verlässliche, gute Landesverteidigung sicherstellen. Insofern finde ich es grundsätzlich richtig, dass man in einer Bedrohungslage alles, was militärisch für die Landesverteidigung und die Bündnisverpflichtungen erforderlich ist, auch finanzieren kann. Die in Artikel 109 Absatz 3 des Grundgesetzes vorgesehene Ausnahmeregelung für Notsituationen ist für vorbeugende Maßnahmen wie die, um die es hier geht, nicht anwendbar. Aber wenn unsere Sicherheit wirklich bedroht ist, weil ein Angriff bevorsteht oder ein Verbündeter nicht mehr verlässlich ist, dann darf man auch vor Verschuldung nicht zurückschrecken, um unsere Verteidigung zu gewährleisten
BBW: Sie halten es also für richtig, dass Deutschland sich unbegrenzt verschulden kann, sobald eine außergewöhnliche externe Bedrohung besteht?
Lucke: Ja. Immerhin ist eine Ausnahme für die Verteidigung nicht das Schlimmste, denn man darf hoffen, dass kein Politiker mutwillig überflüssig viel Geld in die Verteidigung stecken möchte. Mit sozialen Wohltaten wäre es ja viel einfacher, Wähler für sich zu gewinnen. Deshalb ist eine Ausnahme in der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben weitaus eher zu vertreten als bspw. eine Ausnahme für die Sozialpolitik.
Aber natürlich müssen die Politiker sehr verantwortungsbewusst prüfen, was für die Verteidigungsfähigkeit wirklich nötig ist. Es gibt immer die Gefahr einer hysterischen Reaktion, bei der größere Bedrohungen an die Wand gemalt werden als tatsächlich vorhanden sind. Das würde zu einer Überrüstung führen, auf die der vermutete Gegner mit ebenfalls großen Rüstungsanstrengungen antworten würde. So könnte man in einen teuren, ineffizienten und gefährlichen Rüstungswettlauf geraten. Ich fürchte, dass die unbegrenzte Verschuldungsfähigkeit für Zwecke von Verteidigung und Sicherheit einer solch unseligen Entwicklung Vorschub leisten könnte.
BBW: Wenn aber neue Rüstungsgüter beschafft werden, dann ist die dafür aufgenommene Verschuldung doch immerhin generationengerecht? Den Schulden steht ja dann eine viel werthaltigere Bundeswehr gegenüber?
Lucke: Wenn es um neue Waffensysteme geht, ja, wenn nur bestehende Systeme ersetzt werden, eher nicht. Aber auch hier kennen wir noch keine Details. Und es dürfen nun offenbar auch die Personalausgaben der Bundeswehr aus Schulden bestritten werden. Personalausgaben sind aber eindeutig Verbrauch der heutigen Generation, der deshalb nicht durch Schulden finanziert werden sollte. Ähnlich verhält es sich mit Waffenlieferungen an die Ukraine. Auch das fällt unter Verbrauch, denn das sind ja keine Werte, die wir an die kommende Generation weitergeben.
BBW: Sie sind also nicht grundsätzlich gegen das Aussetzen der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben, halten aber die konkrete Form der Ausgestaltung für unbefriedigend?.
Lucke: Ja. Ich halte die Ausnahmeregelung in der Schuldenbremse grundsätzlich für vertretbar, sofern es sich um einen das Normale übersteigenden, von uns nicht steuerbaren Verteidigungsbedarf handelt. Dem wird freilich der Kompromiss zwischen Union, SPD und Grünen nicht gerecht. Denn die Nato hat ja seit langem vereinbart, dass der normale Verteidigungsaufwand bei zwei Prozent des BIPs liegen soll. Das hat Deutschland in der Vergangenheit missachtet, jüngst aber wieder erreicht. Die jetzige Einigung sieht jedoch vor, dass Verteidigungsaufwendungen schon kreditfinanziert werden dürfen, wenn sie ein Prozent des BIPs überschreiten. Das greift zu kurz. Mindestens zwei Prozent des BIPs sollten als normaler Verteidigungsaufwand aus regulären Steuereinnahmen heraus finanziert werden, denn die Verteidigung zählt zu den Kernaufgaben des Staates.
BBW: Und wenn künftig 5% der neue Normalzustand ist?
Lucke: Dann sollte nur Verteidigungsaufwand oberhalb von 5% aus Schulden finanziert werden können. In diesem Fall müsste man die Grenze, ab der Verteidigung von der Schuldenbremse ausgenommen ist, am besten schrittweise anheben. Wir starten jetzt mit 2%, weil das bislang das Normale war, nächstes Jahr sind es dann 2,5% und so weiter, bis man den neuen Normalzustand, also 5% erreicht hat. Man darf eine strukturelle Belastung nicht dauerhaft schuldfinanzieren - das hat schon das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil deutlich gemacht. Leider sieht der Plan von Union, SPD und Grünen nicht vor, dass die Ausnahme von der Schuldenbremse irgendwie an das herangeführt wird, was dauerhaft der normale Verteidigungsbedarf sein wird.
BBW: Zudem ist das 500 Mrd Euro schwere Sondervermögen für die Infrastruktur ja eine weitere ganz erhebliche Ausnahme von der Schuldenbremse.
Lucke: Richtig, und das ist ein wichtiger Kritikpunkt an diesem Sondervermögen und der Ausnahmeregelung für Verteidigung. Denn wenn nicht strikt darauf geachtet wird, dass generationengerecht finanziert wird, dann kann beides sehr leicht dazu missbraucht werden, die Schuldenbremse praktisch wirkungslos zu machen. Dann schafft man sich so große Möglichkeiten, Ausgaben aus dem Haushalt auszulagern und durch Kreditaufnahme zu finanzieren, dass im Haushalt plötzlich viel Spielraum für neue Ausgaben aller möglichen Zwecke entsteht. Und wenn Geld da ist, wird es meist mit vollen Händen ausgegeben. Das gilt übrigens auch für Verteidigung und Infrastruktur. Ich habe große Zweifel daran, dass die Gelder, die jetzt in so großer Menge zur Verfügung stehen werden, wirklich sparsam und nur für sinnvolle Zwecke eingesetzt werden - einfach weil plötzlich so irrsinnig viel Geld da sein wird. Da die zusätzlichen Aufträge vielfach auf begrenzte Produktionskapazitäten stoßen (Rüstung, Bau), sind zudem hohe Preissteigerungen zu erwarten, die die öffentliche Hand kostenmäßig zusätzlich belasten werden.
BBW: Immerhin könnte man dann mit den regulären Haushaltsmitteln auch stets die Ersatz- und Reparaturaufwendungen für die Infrastruktur und die Verteidigung finanzieren - und das wäre dann ja generationengerecht.
Lucke: Wenn es genügend durchgeplante, genehmigungsfähige Vorhaben gibt, könnte man das. Aber ich bezweifle, dass man es tun wird. Denn die geplanten Verfassungsänderungen setzen ja auch in dieser Hinsicht ein schlechtes Beispiel. Sehen Sie, heute rechtfertigt man sie, indem man sagt, "wir haben leider jahrzehntelang nicht genug für Verteidigung und Infrastruktur ausgegeben, deshalb müssen wir jetzt einmal und ausnahmsweise hohe Schulden aufnehmen, um den ganzen Nachholbedarf zu finanzieren". Aber es ist doch zu fürchten, dass das Beispiel Schule macht. Die nächsten Regierungen werden dann wieder Reparatur- und Ersatzaufwendungen vernachlässigen und das dafür notwendige Geld lieber anderweitig ausgeben, weil sie wissen, dass sie das Spiel wiederholen können: Sie werden erst zusehen, wie die Misstände über Jahre immer schlimmer werden und dann werden sie sagen, jetzt ist der Zustand so schlimm geworden, dass man ganz dringend sofort ganz viel Geld in die Hand nehmen und die Schuldenregeln der Verfassung weiter abschwächen muss. Das führt natürlich nicht zu einer nachhaltigen Schuldenpolitik.
BBW: Nachhaltig sollten die deutschen Staatsschulden ja auch durch EU-Recht sein. Nicht mehr als 60% des BIPs sind zulässig, aber die SPD ließ jüngst verlauten, dass es nicht so schlimm sei, wenn die Schuldenquote durch die Sondervermögen auf knapp unter 90% steigen wird.
Lucke: Das ist eben das Problem, dass die Schuldenbremsen immer genau dann missachtet und diskreditiert werden, wenn sie das tun, was sie tun sollen: Den Anstieg der Staatsverschuldung zu bremsen und zu erzwingen, dass die notwendigen Erhaltungs- und Reparaturaufwendungen aus dem laufenden Steueraufkommen getätigt werden. Natürlich sind Schuldenregeln oder -bremsen unbequem in dem Augenblick, indem sie bremsen - aber das ist ihre Aufgabe. Es ist ein großes Politikversagen, dass Politiker dies nicht ernst nehmen, sondern immer so tun, als läge gerade jetzt ein ganz besonderer Notstand vor, der es erfordert, dass man die notwendigen Maßnahmen nicht selbst bezahlt, sondern die Bezahlung unseren Kindern und Kindeskindern auferlegt.